Holzbalkon lima

Barranco: Lima nutzt die zweite Chance

3.10.2022

Beim kurzen Antrittsbesuch zeigte sich Lima als eine Art lateinamerikanisches Husum: graue Stadt am grauen Meer unter grauem Himmel. Der Stadtteil Miraflores, in dem unser Hotel stand, war zwar nicht ganz so gruselig verbaut wie vieles anderswo in der Stadt, aber Preise für gelungene Stadtplanung oder gar Erhaltung schöner Gebäude bleiben ihm sicherlich vorenthalten.

Für die letzte Peru-Woche quartierten wir uns im direkt südlich angrenzenden „Barranco“ ein, zu Deutsch „Schlucht“. So eine liegt tatsächlich direkt neben dem Hauptplatz, und darüber führt (darunter macht man es ja nicht) eine Seufzerbrücke. Allerdings schlicht aus Holz, ohne Schwung und Verzierungen wie das Original.

Brutalistisches Universitätsgebäude in Barranco
Lima steht voll mit solchen Exzessen brutalistischen Bauens. Das hier ist eine zehn Jahre alte Uni für Ingenieure am Rand von Barranco.

Verziert sind dafür die meisten der Gebäude hier. Sie stammen überwiegend aus dem 19. Jahrhundert, und glücklicherweise hat niemand daran gedacht, sie durch moderne Glaspaläste oder brutalistische Betonkästen zu ersetzen. In den zum großen Teil restaurierten Häusern haben sich Restaurants, Bars, Chichi-Läden und „Boutique“-Hotels niedergelassen. Das Publikum ist un-arm, jung und im weitesten Sinn „Bohème“.

Häuser im  Barranco in Barranco Unser Hotel hat sich auch das Attribut „Boutique“ gegönnt, passender wäre allerdings „Museum“. Angeblich erst während der Pandemie hat sein Eigentümer Giancarlo alles Mögliche zusammengekauft: Schellackplatten, Marienstatuen, gute moderne und schlechte alte Gemälde, Kinderspielzeug, Möbel, Kronleuchter … Überall steht, hängt oder liegt was, und die Abstaubintervalle sind großzügig bemessen.

Der Laden ist also nichts für Leute, die es gerne so sauber wie im OP hätten. Statt Sterilität bekommen die Gäste viel Kontakt zu den Mitarbeitern, die wie eine zusammengewürfelte WG wirken. Es gibt Ratschläge zu Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Transportmitteln. So ist der örtliche Schnellbus „Metropolitano“ je nach Betrachter eher bäh oder ein sinnvoller Weg, schnell in die Stadt zu kommen. Die meiste Zeit wohnen wir allein hier und bekommen jeden Morgen zum Frühstück einen „Special Juice“ aus Papaya, Banane und Milch gemixt.

Kirche am Marktplatz in Barranco
Am Marktplatz von Barranco steht, wenig überraschend, eine Kirche.

Was sich im angeblichen Künstlerviertel genauso Bahn bricht wie im Rest von Lima ist die Begeisterung für Lärm jeder Art. Vor allem Autofahrer toben sich dabei aus und ersetzen Fahrvermögen durch den Gebrauch der Hupe. Genutzt wird sie praktisch immer, gerne ohne jeden Anlass. Vermutlich ist sie hier eine Art Totmannknopf, sodass das Auto oder der Bus sofort stehen bleibt, vergehen mehr als zwei Sekunden zwischen zwei Huptönen.

Aber auch sonst fungiert Krach als Grundnahrungsmittel. In Restaurants drängt von außen der Verkehrslärm durch die geöffneten oder fehlenden Fenster, wogegen die Musik und der Fernseher anschreien müssen. Was bedeutet, dass die Gäste ihre unabdingbaren Telefonate in Megafonlautstärke führen. Im Bus ist es wegen des Dieselmotors ohnehin laut, dann das Hupen von draußen … unvermeidlich, das Handy auf Düsentriebwerk zu stellen, will man die aktuellen Hits hören. China ist laut, Lima ist lauter.

Im Freien viel Leben, drinnen gutes Essen

Trotzdem ist Barranco ein angenehmes Stadtviertel. Abends sind die Straßen voll mit Spaziergängern, auf dem zentralen Platz finden wechselnde Märkte statt, überall warten Restaurants mit gutem Essen auf Gäste. Wobei „warten“ nicht wörtlich zu nehmen ist: Die richtig guten lassen eher die Gäste eines freien Tisches harren. Im „Kjolle“ war auf Monate hin kein Platz frei, wir hätten uns höchstens auf die Warteliste setzen lassen können. Wer also mal nach Lima will, sollte rechtzeitig planen! Die Preise liegen übrigens oft weit unter denen, die Restaurants in Europa für ein ähnliches Angebot verlangen.

Wir gingen dreimal ins von einem Venezolaner geführte „Mérito“, das nicht nur ausgezeichnetes Essen, sondern auch ein angenehmes Ambiente und aufmerksamen Service bietet. Die Karte hatten wir danach fast durch, und es war alles großartig: cevichefizierter Fisch auf einem getoasteten Dings, gebratene Austernpilze mit Mini-Pasta in einer grünen Soße, Fisch des Tages mit gebratenen Streifen von weißer Kartoffel und einigen Dongs-Kugeln und noch einiges mehr.

Fischcurry und Schweinebauch Cevichefizierter Fisch auf etwas getoastetem
Drei von 18 Gerichten des Mérito: Oben links Schweinebauch zum Selberbasteln, unten links Fischcurry und rechts der cevichefizierte Fisch auf getoastetem Dongs.

Dings und Dongs hießen anders, aber es ist unmöglich, sich die vielen lokalen Gemüse- und vor allem Knollensorten zu merken. Die Kartoffel kommt von hier, und es wachsen davon 5000 Sorten. Manche heißen nicht Kartoffel, sind aber „etwas Ähnliches“. Andere werden sogar seit ein paar tausend Jahren gefriergetrocknet (in den Bergen, wo es auch mal friert) und so haltbar gemacht. Die sollen allerdings, nach nichts schmecken, heißt es.

Weniger gut ausgestattet ist Barranco mit Museen. Zwar findet sich hier das Museo de Arte Contemporáneo (MAC), von dessen drei Sälen einer gerade umgebaut wurde. Die meisten Ausstellungsstätten liegen jedoch in der Innenstadt und damit gut 11 Kilometer entfernt. Der Fluch ein- bis zweigeschossiger Bauweise – ein Flatschen statt einer Stadt. Irgendwo im Norden Limas wartet eine einzige U-Bahnlinie auf Fahrgäste. Den größten Teil des ÖPNV in der 12-Millionen-Stadt bewältigen lokale Busse, von einzelnen Unternehmen betrieben. Was heißt: Keine Umsteigetickets, keine Fahrpläne, kein Liniennetz, für Touristen also kaum benutzbar.

Haltestelle des Metropolitano in Lima
Der Schnellbus Metropolitano hat kilometerlange Haltestellen, mehrere Linien und nur eine eigene Spur.

Benutzbar hingegen ist der „Metropolitano“, ein Schnellbus nach brasilianischem Vorbild, der überwiegend auf seiner eigenen Trasse verkehrt. Bislang zwar ebenfalls nur auf einer einzigen Strecke von Norden nach Süden, aber immerhin mit Haltestelle in Barranco. Als Zahlungsmittel fungiert eine Smartcard, die man an den Haltestellen am Automaten kaufen und wieder aufladen kann. Tatsächlich an dem Automaten, denn es steht meistens nur einer da. Er akzeptiert ausschließlich Geldscheine und Münzen, keine Kreditkarten – in einer Stadt, in der man sogar 12 Cent für die Toilettenbenutzung mit Karte bezahlen kann. Wechselgeld bekommt man von der Maschine auch nicht. Vermutlich ist dieses System ein Opfer des „not inventend here“-Syndroms: Statt sich umzusehen, was die Welt so an Fahrschein- und Smartcard-Automaten verwendet, baut sich die Stadt Lima lieber ein eigenes halbgares System.

Auf der einen Spur des Metropolitano fahren, damit es interessanter wird, vier normale und zig Expresslinien. Keine davon hält überall, sie bedienen nur den Norden oder den Süden oder ein Mittelstück. Damit das mit der einen Spur funktioniert, haben die Stationen Ausmaße wie eine A380-Landebahn und mehrere Haltestellen für die einzelnen Linien, im Abstand von gefühlt 500 Metern. Wer also Linie B oder C nehmen könnte (wie wir), muss sich für einen Wartepunkt entscheiden und hoffen. Anzeigen, welche Linie wann kommt, fehlen. So wirkt das ganze System des Metropolitano wie eine Alibinummer: Wir haben irgendwas für den Nahverkehr getan, und damit ist das Thema gegessen.

30 Minuten gequetscht für 11 Kilometer

Immerhin, die Fahrt ins Zentrum dauert nur eine halbe Stunde in engstem Kontakt zu zahlreichen Limeños. Und Kontakt zu Einheimischen ist es doch, was Touristen wollen. Da viele kleiner sind als wir, bleibt uns ein weitgehend freier Luftraum und Ausblick auf die sich neben der Busspur stauenden Autos.

Im Zentrum wartet dann wieder das Mali mit seiner Sammlung zur Kunst Perus aus den letzten 3000 Jahren. Und das Museum für afroperuanisch … ja, was eigentlich? Das war leider nur eine Sammlung von Texten und Bildern zur Sklaverei. Als ob die deportierten Afrikaner:innen keine kulturellen Spuren in Peru hinterlassen hätten. Das Museum der Zentralbank zeigt regelmäßig moderne Kunst, und im Museum des erzbischöflichen Palasts lief gerade die Schau einer lesbischen Comic-Zeichnerin. Wieder viel Text auf Spanisch.

Weniger bekannt ist das Kunstmuseum der Universität San Marcos, zu dem wir samstags dackelten – geschlossen, meinte der Herr am Uni-Eingang. Es sei denn, wir hätten eine Einladung. Einladung ins Museum? Wohl kaum. Er mochte sich dann wohl nicht mehr mit unserem brüchigen Spanisch herumschlagen und rief kurzerhand einen jungen Mann hinzu. Der klemmte uns virtuell unter den Arm und brachte uns zu der einzigen geöffneten, temporären Ausstellung: Werke einer peruanisch-französischen Künstlerin, die in den USA lebt. Sie erläuterte uns ihre Arbeiten quer durch drei Sprachen und freute sich fast ein Loch in den Bauch über die Besucher ohne Einladung.

Archiv des Larco-Museum
Das Larco-Museum muss den größten Teil seiner 40.000 Stücke im Archiv aufbewahren.

Anschließend zeigte uns der junge Mann, der sich als Assistent des Museumsdirektors entpuppte, die Toiletten (ungefragt) und den Weg zur nächsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Sie präsentierte die im jährlichen Wettbewerb junger peruanischer Künstler prämierten Werke und die übliche Bandbreite von „gut“ bis „was soll das?“.

Über die Kunsthallen nicht vergessen darf man das Larco-Museum. Sein gleichnamiger Gründer hat mit 25 Jahren angefangen, präkolumbische Kunst zu sammeln, und der Bau beherbergt heute 40.000 Stücke. Die meisten davon stecken in einem beeindruckenden Depot, das Besuchern ebenfalls offen steht. Wie Kurator:innen darin jedoch etwas finden, bleibt ein Rätsel.

Bedauernde Erkenntnis nach dem Besuch: Von den alten peruanischen Kulturen haben wir in vier Wochen kaum etwas gesehen. Die Inka waren nur ein Tropfen in diesem Ozean, und nicht gerade der künstlerisch reizvollste. Was von den Chimú, Wari, Moche und wie sie alle heißen, übrig blieb, übertrifft die gezeigten Inka-Reste hinsichtlich Abwechslungsreichtum und künstlerischer Ausarbeitung bei Weitem. Da sich die Reiseveranstalter auf Machu Picchu als größte und am besten erhaltene Stätte stürzen, fallen die anderen Kulturen hinten runter, vorwiegend die nördlich von Lima.

Dicke Figur aus der präkolumbianischen Zeit Weiße Figur aus der Inkazeit
Während die später von den Inka überrollten und assimilierten Kulturen feinausgearbeitete, teils bunt bemalte Keramiken en masse produzierten (links), ist von den Inka im Museum überwiegend Schlichtes erhalten.

Trotz allem, was unperfekt, laut, schmuddelig oder verbesserungswürdig ist: Lima lohnt sich und ist nicht halb so nervig wie die großen Städte in Brasilien. Egal, wo man ist und wen man trifft, sobald der Augenkontakt länger als zwei Sekunden dauert, sagt das Gegenüber „Hallo“. Das haben wir noch in keiner Großstadt erlebt. Und fast alles, was wir sehen oder tun wollten, konnten wir sehen oder tun. Nur leider nicht alles probieren, was wir gerne gegessen hätten.

Museo nacional de Perú (MUNA)
Da fällt jedem der Abschied leicht: das Museo Nacional de Perú (MUNA). Gut 20 Kilometer von Lima entfernt, ohne Bus- oder andere Anbindung. Aus dem Beton des nahegelegenen Werks gegossen, kongenial grau in der grauen Landschaft unter grauem Himmel. Und bislang ohne Dauerausstellung.

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