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Leuchtendes und ruhiges Vorbild Curitiba

11.10.2017

Fast gänzlich unerwartet landeten wir nach Foz do Iguaçu in einer richtigen und über die brasilianischen Maße angenehmen Stadt: Curitiba. Zwei Millionen Einwohner, hundert Kilometer vom Meer, Hauptstadt des Bundesstaates Paraná. Als Bürgermeister amtierte hier seit den frühen siebziger Jahren dreimal der Architekt Jaime Lerner. Er schuf eine für hiesige Verhältnisse geradezu revolutionäre Stadtplanung mit zahlreichen Grünflächen ohne un- oder unternutzte Flächen im Stadtzentrum. Hier ist man als Fußgänger gerne und in Ruhe unterwegs, weil der Autoverkehr aktiv reduziert wurde.

Curitiba-Altstadt bei Nach

Lerner trug entscheidend dazu bei, dass Curitiba kein Automoloch wie Rio de Janeiro ist und keine völlig verhauene Innenstadt wie Sao Paulo hat. Auf ihn geht das erste Schnellbussystem Brasiliens zurück, mit eigenen Spuren und immer noch ziemlich futuristischen Haltestellen. An den durchsichtigen Glaszylindern hält der Bus passgenau, damit seine Rampen in deren Öffnungen passen. So steigen die Fahrgäste ohne Stufen ein und aus. Da man sein Ticket schon am Eingang der Haltestelle kauft, stehen die Busse auch nicht wie andere ewig unnütz rum, bis sich endlich alle Fahrgäste durch deren nerviges Drehkreuz gequetscht haben. Belo Horizonte hat sich von diesem Bussystem inspirieren lassen und einige andere Städte auf der Welt.

Bushaltestelle in Curitiba
Bushaltestelle Curitiba mit Bus, aussteigende Passagiere
Die Schnellbusse in Curitiba halten an futuristischen Glasröhren. Dort klappen sie Rampen aus, damit die Fahrgäste steigungsfrei ein- und aussteigen können.

Von der Theorie zur Praxis: Fahrscheine

Curitiba war denn auch die nach Rio einzige Stadt in Brasilien, in der wir ein aufladbares Ticket tatsächlich bekommen konnten. Besser gesagt: mussten. Denn der Bus, der uns zum Niemeyer-Museum (wohin sonst) bringen sollte, sparte sich den Schaffner. Kein Ticketverkauf also an Bord, nur Zutritt mit dem Plastikkärtchen. Nach nur zehn Minuten Hin und Her war der Kiosk erreicht, der das Teil verkaufte und sogar auflud. Alles verhältnismäßig einfach. Ach, übernähmen die anderen Städte doch nicht nur die Schnellbusse, sondern auch das System der Fahrkarten!

O Olho, Niemeyers Museum für Curitiba
Der weitaus größere Teil des Museums für Moderne Kunst steckt nicht im namensgebenden Auge, sondern in einem langweiligen Quader dahinter.

Niemeyers Hinterlassenschaft in Curitiba ist ein großes Auge mit angeschlossenem Quader. Das Ensemble beherbergt das Museum für zeitgenössische Kunst von Paraná. Wir hatten Glück, weil gerade die 44. (oder so) hiesige Biennale stattfand und es deshalb allerhand schöne, interessante und auch doofe Kunst zu sehen gab. Etwa spaßige Installationen eines kubanischen Künstlerkollektivs, vieles von Leuten aus der Region und ein paar Werke aus China.

Geschmolzene Instrumente, Skulptur
Trotz Klimaanlage …

22-jähriger Schwuler, 20 Stiche, Sao Paulo Wie es sich für eine Biennale gehört, beteiligten sich etliche andere Standorte mit eigenen Ausstellungen, unter anderem die Universität. Der Raum war gar nicht so leicht zu finden: Auf der Straße stand zwar ein Aufsteller, aber nicht vor dem Eingang. Wie immer hier brachte uns dann jemand auf den richtigen Weg zur Kunst. Zu sehen war unter anderem ein mehrere Quadratmeter großes Bild, das Gewalttaten gegen Schwule, Lesben und Transgender dokumentierte. Offenbar ist die in Rio und anderen großen Städten zur Schau gestellte Toleranz und Freiheit nur ein Aspekt des hiesigen nicht-heterosexuellen Lebens.

Zeichnungen zu Gewalt gegen LGBTQ-Personen, Biennale Curitiba 2017
Zeichnungen zu den Fällen homophober Gewalt in Brasilien.

Auch draußen findet sich in Curitiba viel Kunst, unter anderem von der Lokalgröße Poty.

Eine Altstadt für Menschen, nicht Autos

Ein paar hundert Meter von der Uni liegt die Altstadt von Curitiba. Nahezu komplett autofrei, mit Kopfsteinpflaster und etlichen restaurierten alten Gebäuden an zwei Plätzen. Darin Restaurants, Läden, Ausstellungsräume und Museen. Unter anderem das des Bundesstaates Paraná – nicht nur wesentlich größer als vermutet, sondern auch interessanter. Da zeigte man Einwanderer nicht als Bedrohung, sondern als positiven Teil der eigenen Geschichte. Für alle Gruppen (Polen, Deutsche, Ukrainer, Juden, Russen, Araber…) liefern Tafeln die wichtigsten Informationen auf Portugiesisch und in der jeweiligen Sprache der Immigranten. Wie zur Bekräftigung der Multi-Kulti-Tradition befindet sich das Museum zwischen der Moschee und dem Haus der polnischen Gesellschaft.

Moschee in der Altstadt von Curitiba
Jeden Sonntag ist in der Moschee von Curitiba Tag der Offenen Tür.

Altstadt von Curitiba Dort in der Altstadt findet man auch Restaurants, unter anderem eine immer volle „Schwarzwald-Bar“. An deren Decke hingen zig Quadratmeter Deutschlandfahne, was uns dann doch von einem Besuch Abstand nehmen ließ. Stattdessen gingen wir zweimal ins „A Caçaira”. Dort arbeiten lauter junge, meist Englisch sprechende Leute, die uns mit viel Liebe ihre Gerichte erklärten. Unter anderem „Barreado“ (gesprochen „Baheado“): Im Wesentlichen stundenlang gekochtes Rindfleisch, das mit Maniokmehl, Reis und Bananen serviert wird. Das Maniokmehl ist zuerst in einer Schicht auf dem Teller auszubreiten, darauf kommt das Fleisch samt Soße und wird solange mit dem Mehl verrührt, bis man eine Art Brei hat. Dann kommt der Reis dazu und auf das Ganze schnippelt man sich dann die Bananen. Bisschen viel Aufwand, aber lecker und mal nicht staubtrockenes Abendessen. Der Laden hat auch einen schönen Garten, in dem man essen kann. Abends war es uns dort bei rund 13 Grad doch zu frisch, aber zu Mittag prima.

Zutaten für das Gericht Barreado
Sieht etwas komisch aus, schmeckt aber gut: Barreado als Bausatz.

Ein revolutionärer Zahnarzt findet sich immer

Zur gut einen Kilometer langen Fußgängerzone geht es von der Altstadt über den Tiradentes-Platz. Wer bei dem Namen an irgendwas mit Zähnen denkt, liegt richtig: Der Platz ist nach einem Unabhängigkeitskämpfer aus dem 18. Jahrhundert benannt, der als Zahnarzt arbeitete. Damals bedeutete das in erster Linie „ziehen“, daher sein Spitzname „Zahnzieher“. Nach ihm ist in jeder Stadt ein Platz benannt, so wie auch überall Straßen nach Rui Barbosa und Plätze nach General Osorio heißen. Die Fußgängerzone ist, wie sowas sein soll, voller Geschäfte und Leute. Dass Rodolfo, der Chef des lokalen C&A, sich erkundigte, ob wir Hilfe bräuchten und dann noch für einen längeren Schwatz über Ratenzahlungen und unsere Reiseroute blieb, erlebt man anderswo wohl eher nicht. Nur Restaurants fehlen in der Fußgängerzone, aber das ist fast überall auf der Welt so – fast immer geöffnete Burger-Schuppen findet man dort jedenfalls.

Tiradentes-Platz in Curitiba
Eine Praça Tiradentes gibt es in jeder Stadt. Der Zahnarzt war einer der ersten Kämpfer für die Unabhängigkeit Brasiliens.

Etwas weiter weg liegt der Botanische Garten, der eher ein großer Park mit einem scheinbar antiken Gewächshaus ist. Das stammt aber aus dem Ende des letzten Jahrhundert, obwohl es an die alten viktorianischen Glashäuser erinnert, wie sie auch im Berliner Botanischen Garten stehen. Was botanische Erkenntnisse angeht, sollte man keine großen Erwartungen hegen – die wenigsten Pflanzen sind überhaupt beschriftet, weitergehende Erklärungen gibt es kaum. Macht aber nichts, der Garten eignet sich gut zum Spazierengehen und Erholen. Oder zum Joggen, was eine brasilianische Großgruppe begeistert betrieb. Zumindest, solange ihr die Aufmerksamkeit der anderen Besucher sicher war. Kaum glaubten sie sich unbeobachtet, verfielen die Jogger in gemächliches Tempo.

Gewächshaus Botanischer Garten Curitiba

Kurz: Curitiba war bislang die für uns Europäer angenehmste Stadt in Brasilien. Eigentlich die einzige, die die Bezeichnung überhaupt verdiente.

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