Marbacher marktplatz

Marbach sehen

2.6.2016

Vom Neckar und der nervigen Bundesstraße geht es so steil nach Marbach hinauf, dass beim Treten das Hinterrad auf dem Kopfsteinpflaster durchdreht. Oben angekommen, steht man in einer intakten mittelalterlichen Stadt, komplett mit Fachwerk, Stadtturm und Resten einer Stadtmauer. Das gibt es zwar auch anderswo, aber in Marbach fehlen die Touristen, die durch Goslar, Rothenburg und Heidelberg pilgern, genauso wie die Tübingen bevölkernden Studenten. So tröpfelt das lokale Leben zwischen Fleischer, Eiscafé und Buchladen hin und her.

Mittagessen gibt es zum Beispiel im marktdreizehn: ein bisschen bio, ein bisschen alternativ. Während man auf giftgrünen Plastikstühlen auf die Ankunft des Salats wartet, läuft der junge Mann vom Ordnungsamt vorbei und wünscht einen guten Tag. Dass hier irgendetwas in Unordnung sein könnte, scheint unvorstellbar. Der Buchladen steckt in einer ehemaligen gotischen Kapelle und verkauft neben dem üblichen Mist allerhand, was die größere Konkurrenz in Tübingen nicht anbietet. Direkt daneben steht der letzte übriggebliebene Tor-Turm, zu seinen Füßen ein Kriegerdenkmal. Eine Tafel weist darauf hin, dass die deutschen Faschisten es 1934 errichtet haben. Deren restliche Spuren an Turm sind getilgt, das Wappen der Stadt hat den Adler mit Hakenkreuz ersetzt.

Tor-Turm am Ende der Altstadt von
Marbach
Am Ende der Altstadt steht der teil-entnazifizierte Tor-Turm. Den Schlüssel dafür gibt's im Eiscafé gegenüber.

Eiscafé und Buchladen als Schlüsselverwalter

Der Zugang zum Turm ist verschlossen, gegen ein Pfand bekommt man den Schlüssel im Eiscafé oder im Buchladen. Kurz vor Ende der Besichtigung stapft der Eismann die Treppe hinauf und mahnt die Besucher in italienisch gefärbtem Deutsch, das Licht zu löschen und die Türen abzuschließen – ausnahmsweise ohne weitere Informationen über die Marbacher Vergangenheit und Gegenwart. In der Regel bekommt die, wer hier auch nur minimales Interesse zeigt.

Fratze in der Alexander-Kirche in
Marbach
In der Alexander-Kirche sollen Fratzen jene menschlichen Untugenden symbolisieren, die die Gläubigen draußen lassen mögen.

So erläutert der ältere Herr in der extrem gotischen Alexander-Kirche begeistert Bedeutung und Funktion der Fratzen an den Pfeilern. Im Stadtinfo-Büro dauert der Vortrag zur Geschichte samt praktischer Tipps zum Jetzt weit über die angeschlagene Öffnungszeit hinaus. Gehalten wird er von einer Dame, die das Rentenalter schon vor Jahren erreicht hat – ihre Begeisterung ist fast mit Händen zu greifen. Essen gehen könne man da oder dort oder natürlich in der Glocke, wo Wild aus eigener Jagd auf der Karte stehe. Weiter unten finde sich eine Mikrobrauerei, „das Haus mit dem Pleitegeier über dem Eingang“. Stehe dort die Tür offen, solle man unbedingt hineingehen. Leider blieb sie immer verschlossen.

Ein für allemal in den Haspelturm

Und ansehen müssen Besucher unbedingt den kleinen Haspelturm, der früher als Gefängnis diente. „Da hat man die Leute 15 Meter mit einem Seil heruntergelassen und auch wieder… nein, rausgeholt wurden sie eigentlich nicht mehr.“ Zu sehen ist er dann kaum, weil umzingelt von Häusern. Gut also, dass es den Vortrag gab. Vor dem Haspelturm kommt man am einzigen Haus vorbei, das den Stadtbrand von 1634 überstand und gegenüber ist Sediment aus dem Neckar in einer Mauer verbaut. „Dafir müsset Sie net zum Grand Canyon fahren“, fand die Stadtinfo-Dame. Danach geht es zu den Gärten. „Die sind so schmal, damit man nicht darauf bauen konnte. Verboten war das auch, die Gärten sollten zur Versorgung Marbachs beitragen.“ Und das tun sie heute noch, wenn auch die Ernte nicht allzu viele satt machen dürfte.

Marbacher Gärten
Die Gärten dienten früher der Selbstversorgung.

Den Berg hoch schließen sich drei „Holdergassen“ an die Gärten an: die untere, mittlere und obere. Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäuser, konzentrierte deutsche Romantik halt. Früher wohnten auf der einen Seite der Gassen die Weinbauern, auf der anderen hatten sie ihre Scheune. Eine davon ist die Salzscheuer mit der kleinen Brauerei. Das „Bier von hier“; bekommt man auch in der Glocke, zum selbstgeschossenen Reh oder Wildschwein.

Das Bier aus Marbach
Lecker Bier von hier aus der Marbacher Mini-Brauerei.

Englisch lernen in einem Marbacher Wohnzimmer

In der oberen Holdergasse betreibt die US-Amerikanerin Megan mit ihrem britischen Gatten „The English Society“. Die Teepackungen in deren Schaufenster sind jedoch nur Beiwerk, Hauptgeschäft der beiden sind Sprachkurse und Konversationszirkel. Denn „die Deutschen haben ein gutes Fundament, aber es fehlt ihnen an englischer Sprachpraxis,“ und die bekommen sie in der Society. Dafür fahren Megan und ihr Mann sogar zu Firmen nach Ludwigsburg. In Marbach leben sie gerne, weil die Leute hier zusammenhalten. Essen gehen sollte man, so Megan, im Schillerhof. Insbesondere das Schokoladensoufflé dort hat es ihr angetan. Dafür hatten wir dann aber nach der Hauptspeise keinen Platz mehr…

Holdergasse in Marbach
Eine Marbacher Holdergasse

Für den Zusammenhalt in diesem kleinen Ort spricht auch der Verein, der sich um die Betreuung von Flüchtlingen kümmert. Unterstützt von der Stadt, aber unabhängig von ihr, wie es im Faltblatt heißt. Die Mitglieder tun das Nötige: Deutsch beibringen, bei Besuchen in Behörden helfen, Kleidung organisieren. Die Faltblätter liegen fast überall aus.

Bekannt ist Marbach, wenn es überhaupt bekannt ist, durch Schiller. Der wurde hier geboren und mit vier Jahren bereits weggezogen. Marbach hat er nie wieder besucht, aber die rührigen Bürger gründeten schon im 19. Jahrhundert einen Verein, der sich um das Erbe des Schriftstellers kümmert. Er betreut das Museum im Geburtshaus, wo Frau W. die überschaubaren Exponate mit ausführlichen Erklärungen aufwertet. Wenn man möchte, erzählt sie auch noch über den ebenfalls in Marbach geborenen Tobias Mayer, der ein Verfahren zur Berechnung des Längengrads erfunden hat und unter anderem in Göttingen Professor war.

Ein Betonklotz für die deutsche Literatur

Außerhalb der Altstadt liegen schließlich auf der Schillerhöhe das Literaturmuseum der Moderne (LiMo) und das Schiller-Nationalmuseum. Ersteres ist eine in Beton gegossene Scheußlichkeit von Chipperfield, die auch Mies van der Rohe nicht langweiliger hinbekommen hätte. 2006 gebaut, tropft schon Wasser durchs Dach. Abgesehen von diesem Rahmen: Literatur lässt sich naturgemäß nur schlecht ausstellen. So gibt es überwiegend Notizen, Briefe und ähnliches zu sehen. Beziehungsweise eher nicht zu sehen, denn das Licht ist auf ein dokumentenfreundliches, aber altenfeindliches Niveau heruntergedimmt. Am Eingang darf man sich kostenlos ein Tablet leihen, das die an den Exponaten angebrachten QR-Codes scannen und dann den Brief etc. anzeigen kann. Zumindest mit unseren Handys funktionierte das jedoch eher schlecht. Oft war es fürs Scannen zu dunkel, und wenn nicht, ließ sich das angezeigte Bild fast nie auf Lesegröße ziehen. Immerhin gab es Gratis-WLAN, sonst würde diese wenig brauchbare Technik gar nicht funktionieren. So kann man dann auf der Schillerhöhe sitzen und Mail schecken.

Marktplatz in Marbach am Abend
Um halb acht abends bimmelt es vom Marbacher Rathaus „Guten Abend, gute Nacht…“ Das passt prima zum Ende des Tages.

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