Marbacher gaerten

Lob des „Langweiligen“

16.11.2020

Viele Verreisende besorgen sich Literatur über ihr Ziel. Wer sich für leidlich alternativ hält, nimmt den Lonely Planet, um in jedem Café, Restaurant und Elefantenkrankenhaus andere Reisende mit demselben Buch unterm Arm zu treffen. Wer sich für Kunst und Kultur interessiert, beschafft sich etwas von Dumont oder Baedecker. So oder so, man landet nur dort, wo alle anderen auch landen oder hin wollen, um genau das zu sehen, was der Reiseführer angekündigt hat. Man vergewissert sich, dass der Schiefe Turm wirklich schief und das Kolosseum wirklich groß und rund ist.

Nach einigen Jahren analoger und digitaler Gängelung haben sogar wir das Offensichtliche bemerkt und entscheiden uns deshalb jetzt häufiger für eine Art umgekehrte Reiseführer-Nutzung: Als langweilig oder uninteressant markierte Orte werden zum Ziel; worüber TripAdvisor schweigt, das lohnt den Besuch. Man muss nur hingucken wollen.

Diese Antihaltung hat auch Vorteile, wenn ein Virus das Reisen erschwert. Wer nicht in die große Welt darf, schaut sich eben die scheinbar kleine an. Noch besser: solche Orte, die mangels Bewertungs-Sternen relativ leer sind. In den letzten Jahren sind uns einige solche Sehensunwürdigkeiten über den Weg gelaufen, die vielleicht auch anderen gefallen und noch ein paar BesucherInnen verdient hätten.

Immer und überall: Kunstgalerien

Wer sich für (nicht nur) zeitgenössische Kunst interessiert, hat die Erfahrung wohl ohnehin schon gemacht: Galerien überall auf der Welt eignen sich hervorragend dafür, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Meistens ist nichts los, die Galeristen haben also Zeit. Und sie freuen sich in der Regel, dass jemand sich für ihr Produkte interessiert. Außerdem sind Fremdsprachenkenntnisse in dieser Berufsgruppe weit verbreitet.

Schlange vor Uniqlo
Vor Kunstgalerien muss man praktisch nie Schlange stehen. Anders als hier vor Uniqlo in San Francisco.

So zeigte uns ein perfekt Englisch sprechender Galerist in Tbilisi die interessanteste georgische Kunst aus den letzten zwei Jahrhunderten, von der in den dortigen Museum keine Spur zu finden war. In San Francisco erfuhren wir etwas über die Zwischennutzung in der sündhaft teuren Innenstadt und bekamen überaus liebevoll (aber erfolglos) einen Dalí-Druck angepriesen. Etwas über die lokale Kunstszene, die bis Ljubljana reicht, erzählte uns ein Galerist in Triest. Das kubanische Cienfuegos war voll mit Ausstellungsräumen, allerdings ging dort ohne Spanisch gar nichts. Auch in Shanghai nahmen sich Leute Zeit und gaben sich viel Mühe, von Kunst und Künstlern zu sprechen. So lernten wir, dass die langweiligen traditionellen chinesischen Bilder allgemein „Wasser-Berg“ heißen – eine so treffende wie umfassende Kurzbeschreibung.

Das Bamberger Gärtner- und Häcker-Museum

Rauchbier und blaue Zipfel, das dürften die bekanntesten Spezialitäten Bambergs sein. Weniger bekannt ist die Vergangenheit der Stadt als Zentrum des Gartenbaus. Das liegt auch daran, das man von dieser Geschichte kaum noch etwas sieht. Immerhin gibt es ein Museum der Gärtner und Häcker. „Häcker“ ist übrigens Fränkisch für „Winzer“

Es beschäftigt sich unter anderem mit dem früher hier populären Süßholz-Anbau – wichtigste Zutat für die Lakritzherstellung. Im alten Gärtnerhaus zeigt das Museum nicht nur Fotos und Texte. Es ist auch ein Denkmal für die ersten Elektroinstallationen überhaupt: Der Strom kam aus Batterien und floss durch nicht-isolierte Leitungen über Putz.

Café Blaues Haus in Worpswede

Worpswede lebt und zehrt von seinem Ruf als Künstlerkolonie des frühen 20. Jahrhunderts. Vor allem verzehrt es ihn: Allüberall findet eine Heldenverehrung statt, in deren Zentrum die Herren Modersohn, Mackensen, Vogeler und Hans am Ende stehen. Als einzige Frau präsentiert man Paula Modersohn-Becker dort fast so prominent wie ihre männlichen Kollegen.

Nun sind sie alle schon lange tot, es gibt also keine neuen Bilder mehr von den Gründern Worpswedes. Und die offiziellen Kunstinstitutionen schaffen es auch nicht, interessante zeitgenössische Werke auszustellen. Die ehemals recht aktive private Alte Molkerei am Ortsrand ist in einen tiefen Schlaf verfallen, nur das Antiquariat dort sperrt noch regelmäßig auf. So staubt Worpswede leise vor sich hin, zwischen Cafés und Läden für Schnickedöns.

Outsider-Kunst: Zeichnung „Versuchung“ von Malte
Kaiser
Die Zeichnung „Versuchung“ von Malte Kaiser gab es im Blauen Haus in Worpswede zu sehen.

Kurz vor dem Ortsende Richtung Osterholz-Scharmbeck jedoch steht das „Blaue Haus” mit der Galerie Maribondo. Betreiber ist der Maribondo e.V., der in der Region etliche Einrichtungen unterhält, in denen Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenarbeiten. Die Galerie in Worpswede zeigt unter anderem Outsider-Art, also Kunst von psychisch Kranken. Die fanden wir deutlich spritziger als die schon so oft gesehenen Worpswede-Klassiker – siehe das Bild oben. Außerdem unterhielten wir uns blendend mit der Barrista, die vor Begeisterung schier barst. Wir gingen mit einer ungewöhnlichen Zeichnung von Malte Kaiser nach Hause.

Meiningen und seine Theatergeschichte

Geht es um deutsche Geschichte, taucht immer wieder das „Ende der Kleinstaaterei” als großer Erfolg der Bismarckschen Politik auf: Endlich gemeinsames Geld, einheitliche Maße, keine Zollgrenzen mehr. Dass manche Mini-Fürstentümer durchaus positive Eigenheiten pflegten, fällt dabei unter den Tisch.

Zu sehen ist das etwa in Meinigen: Heute ein verschlafener Ort in Thüringen, war es von 1680 bis 1918 Hauptstädtchen des Herzogtums Sachsen-Meiningen. Seit 1776 spielte man dort Theater, vermutlich vor allem für den lokalen Adel. Als jedoch Georg II dort 1866 Herzog wurde, übernahm er auch gleich die Leitung des Theaters. So ähnlich, wie Wowereit mehr als 200 Jahre später nicht nur Berliner Bürgermeister, sondern auch Kultursenator wurde.

Historische Kulisse des Theaters Meiningen
In den historischen Kulissen finden heute wiederTheateraufführungen in Meiningen statt.

https://www.meiningermuseen.de/

Georg II hinterließ jedoch mit seiner Arbeit als Theaterchef mehr positive Folgen: Nicht nur heiratete er eine Darstellerin, mit der gemeinsam er das Theater reformierte, so dass die Schauspieler nicht mehr pausenlos an der Rampe standen. Gemeinsam machten sie das Ensemble auch europaweit bekannt. Seit 1874 fanden Gastspiele in 38 Städten statt, unter anderem in London, Wien, Stockholm, Moskau, Sankt Petersburg und Amsterdam.

Von dieser internationalen Bekanntheit ist Meiningen heute meilenweit entfernt. Einen Eindruck davon kann man jedoch im Theatermuseum bekommen. Mit etwas Glück führt ein sehr engagierter Herr durch das Gebäude, die Geschichte des Theaters und die heute wieder für Aufführungen genutzten Kulissen.

Aber Vorsicht im Hochsommer: Wenn alle in Urlaub fahren, mögen auch die Meininger Gastronomen nicht zu Hause bleiben – viele Restaurants und Unterkünfte haben dann eingeschränkten Betrieb oder geschlossen.

Café „Na cestě“ im Schloss Děčín

Nicht weit von Bad Schandau liegt gleich an der Grenze zur Tschechischen Republik Děčín, früher mal Tetschen. Dort steht ein Schloss mit einer der absurdesten Zufahrten aller Schlösser weltweit: Gefühlt einen Kilometer lang bewegt man sich zwischen drei Meter hohen Mauern ohne eine einzige Blicköffnung. Besichtigen kann man das Gebäude nur in einer Führung, manchmal mit etwas Wartezeit.

Zufahrt Schloss Děčín
Eine der merkwürdigsten Zufahrten zu einem Schloss: Děčín inder Tschechischen Republik

Die lässt sich gut in dem kleinen Café Na cestě rumbringen, einem Inklusionsprojekt. Die Verständigung ist allerdings nicht ganz einfach, wenn man kein Tschechisch spricht, etwas Zeit sollte man also mitbringen. Die Speisekarte immerhin gibt es auch auf Englisch. Manche MitarbeiterInnen sprechen ein bisschen Englisch oder Deutsch, verstehen aber auch das Gestikulieren mit Händen und Füßen hervorragend. Wir hatten viel Spaß, auch weil einer der Jungs uns engagiert den Weg zur Toilette zeigte und gründlich aufpasste, dass wir nicht die falsche Tür nahmen.

Outsider-Kunst: Gemälde „Kalligraphie“ von Kateřina Kobrlová
„Kalligraphie“ von Kateřina Kobrlová

Auch hier gibt es manchmal Kunst von „Outsidern” zu sehen, wir haben ein Bild von Kateřina Kobrlová mitgebracht, die sich auch Katrin Tourette nennt. Beim Warten und Kunst Angucken kann man Kaffee oder anderes trinken und Kleinigkeiten essen – vor allem süße und salzige „Palačinka”.

Die lesbische Malerin von Burg Stargard

Burg Stargard sagt vermutlich nur denjenigen etwas, die schon einmal in der Nähe von Neubrandenburg waren. Die Burg liegt rund sechs Kilometer davon entfernt und sitzt ziemlich hoch (aus Berliner Perspektive) über dem gleichnamigen Ort. Man kann da oben romantisch übernachten. Allerdings ist der Ton anfangs etwas brandenburgisch-rau, das müssen Gäste abkönnen.

Zu sehen gäbe es außer der Burg gar nichts, wäre da nicht das Haus von Marie Hager. Wir sind sicherlich nicht die einzigen, die noch nie von dieser Malerin gehört hatten. Was weniger an ihrer Kunst liegt als an den Schwierigkeiten, die Künstlerinnen hatten und haben, sich gegen ihre Kollegen zu behaupten. Frau Hagers Bilder etwa wurden Anfang des 20. Jahrhunderts für eine Ausstellung abgelehnt. Im folgenden Jahr bewarb sie sich geschlechtsneutral als „M. Hager”, und prompt durfte sie teilnehmen.

Kunst aus Burg Stargard: „Markttag” von Marie
Hager“
„Markttag“ von Marie Hager

Das und anderes kann man nicht auf der Webseite erfahren – uns erzählte es die sehr lebhafte und engagierte Kartenverkäuferin/Aufseherin. Sie berichtete ebenfalls, dass Maria Hager nie geheiratet, jedoch häufig längeren Damenbesuch hatte. Was ihr Leben in der Kleinstadt nicht erleichtert haben soll. Zu sehen gibt es eine dauerhafte Auswahl ihrer Gemälde und wohl auch manchmal Sonderausstellungen. Uns gefiel vor allem ein Selbstporträt, aber auch viele der Landschaften und Stadtbilder. Da das Haus von einem kleinen Verein betrieben wird, ist es nur Montag bis Donnerstag regelmäßig geöffnet.

Lokale Flora im Botanischen Garten Bad Schandau

Von „unbekannt” kann bei Bad Schandau zwar keine Rede sein – das Städtchen zieht Besucher an wie Obstkuchen Wespen. Viele Gäste streiten sich mit diesen Tieren dann auf den Elbterrassen um ihr Gebäck. Andere ziehen durch den Ort und müssen aufpassen, nicht von der Schlange an Autos überrollt zu werden, die sich Richtung Tschechische Republik staut. Wieder andere wagen sich auf die Wanderwege ins Elbsandsteingebirge.

Rhododendronblüten auf dem Weg
Rhododendronblüten berieseln einen Pfad im Botanischen Garten von Bad Schandau.

Nur die wenigsten allerdings besuchen den etwas versteckt gelegenen Botanischen Garten – wer würde so etwas auch dort vermuten? Vom Ort aus rechts neben der Straßenbahnlinie ein paar Meter steil bergauf liegt der Garten. Keine Riesenanlage wie in Berlin oder Wien, versteht sich. Aber liebevoll gepflegt von wenigen Halbtagskräften und mit vielen Arten, die es nur in der Region gibt. Die verschlungenen Wege lassen das Ganze zudem größer wirken, als es ist. Wer zur passenden Zeit kommt, kann sogar ein paar heimische Orchideen blühen sehen. Die sind allerdings, wie in vielen Botanischen Gärten, nicht beschildert.

Das Schulmöbel-Museum in Tauberbischofsheim

Tauberbischofsheim liegt an der Romantischen Straße, wie auch Nördlingen, Wertheim und andere Städte, die sich mit viel Fachwerk brüsten können. Da es diese Romantische Straße seit den 1950er Jahren gibt, ist keiner ihrer Wegpunkte wirklich unbekannt oder übersehen. Manch einer mag jedoch nach dem gefühlt zehntausendsten Fachwerkhaus vielleicht etwas anderes sehen wollen.

Dafür empfiehlt sich das Schulmöbelmuseum der Firma VS in Tauberbischofsheim. Schon äußerlich weist es jeden Gedanken an Romantik weit von sich. Ins Innere gelangt man auf Nachfrage beim Pförtner. Bei unserem Besuch hatte niemand Zeit für eine Führung, was aber nichts machte.

Die Ausstellung ist chronologisch organisiert, man wandert also durch die jüngere deutsche Geschichte, wie sie sich in der Ausstattung von Schulen niederschlug. Und das, nicht die Möbel selbst, macht den Reiz des Museums aus: Man sieht die Irrungen und Wirkungen der Pädagogik in Materie gegossen und gehobelt. In den zwei Stunden, die wir dort verbrachten, haben wir uns kein bisschen gelangweilt.

Schon ausführlicher Erwähntes

Auch andere weniger bekannte Orte haben ihren Reiz. Dazu gehören Marbach am Neckar mit seinem schreiend hässlichen Literaturarchiv, Wangen im Allgäu (wo der deutsche Emmentaler erfunden wurde), das Alternative Cultur Centrum (ACC) in Weimar, das auch internationale zeitgenössische Kunst zeigt, und der allerdings sehr, sehr bekannte und beliebte Königssee bei Berchtesgaden. Bei ihm lohnt sich vor allem das Wandern abseits der direkt am Ufer verlaufenden Wege: Dort blühen im Frühjahr die Orchideeen.

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