Auf Gummi und Luft durch Clermont-Ferrand
20.10.2021Nicht nur ihr Essen und dessen Köche machten die Auvergne bekannt, sondern auch ihre Bäder. Eins der berühmtesten dürfte Vichy sein, wenn auch nicht wegen seiner feuchten Vergangenheit. Dazu weiter unten mehr. La Bourboule auf dem Weg von Salers war vermutlich schon früher nicht sonderlich bekannt, heute ist es eine arg verwelkte Schönheit. Das ehemals großartige (zumindest außen kann man das noch erkennen) Casino ist jetzt ein äußerlich mit Neonwerbung verhunzter Betreiber einarmiger Banditen. In der größten Therme, möglicherweise der einzigen, sitzt eine einsame Dame und bellt Besucher an, die den falschen Eingang benutzt haben – vermutlich, damit sie überhaupt etwas zu tun hat.
Ganz so verrottet wie der ehemalige sowjetische Kurort in Georgien ist La Bourboule noch nicht. Es gab offenbar Ende des vorigen Jahrhunderts einen Versuch, den Ort noch einmal aufzupeppen, bei dem vermutlich ein Corbusier-Schüler zum Zuge kam. Das Ergebnis sticht, wie es sich gehört, wie eine Eiterbeule aus den übrigen Gebäudeensemble hervor: Das stammt überwiegend aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Von La Bourboule führte die Straße nochmal hoch in die Berge, wo es herbstlich atemberaubend zuging. Beeindruckend viele Radfahrer:innen taten sich die Steigungen an, trotz Autoverkehrs und fehlenden Radstreifens. Anders als in Salers kann man hier offenbar auch wandern und vor allem Ski fahren: In der Nähe liegt eins der laut Reiseführer scheußlichsten Neubauskigebiete des Landes. Haben wir geschickt umfahren.
Am Fuß der Berge liegt Clermont-Ferrand, die historische Hauptstadt der Auvergne. Das heißt, die Hauptstadt war Clermont, ein Bischofssitz. 1120 gründeten die Grafen der Auvergne als weltliches Gegenstück auf einem Hügel nebenan „Montferrand“, und 500 Jahre später ordnete Ludwig XIII die Vereinigung beider Orte zu einem neuen mit Doppelnamen an. Die Unterschiede sind heute noch deutlich spürbar: Im alten Clermont stehen die große gothische Kathedrale, die Bürgerhäuser, die Präfektur, die Shopping-Malls. Es ist der wohlhabende Teil.
Das östlich davon gelegene Montferrand hingegen ist, wie die östlichen Stadtteile von Paris, der arme Teil. In seiner historischen Hauptstraße stehen viele Läden leer, die Aufhübschung von Clermont-Zentrum hat es nicht bis dorthin geschafft. Statt schicker Restaurants und hipper Straßencafés gibt es Säuferkneipen und Kebab-Läden (mit lecker Merguez-Sandwich, übrigens).
Auch Michelin hatte seine Ursprünge in Montferrand. Heute noch ist das riesige Werksgelände in Betrieb, und in einer Halle kann man das „Aventure Michelin“ besuchen. Was keineswegs öde und langweilig war, wie wohl viele vermuten würden. Die Firma erfand den luftgefüllten Gummireifen nicht nur, sondern verhalf ihm auch zum weltweiten Erfolg, den die Ausstellung ausführlich feiert. Am Anfang standen dabei keineswegs Kutschen oder Autos, sondern Fahrräder: Michelin rüstete einen der Teilnehmer bei der Tour Paris-Brest-Paris mit seinen Pneus aus, und er gewann sie prompt mit acht Stunden Vorsprung vor dem Zweiten.
Die Annahme, damit wäre alles erledigt gewesen und man habe nur unterschiedlich große Reifen herstellen müssen, um so alle möglichen Gefährte aufzuwerten, ist allerdings naiv. So kamen Profile überhaupt erst auf, nachdem Michelin ein Reifenmodell mit vielen „M“s versehen hatte, die auf weichem Untergrund einen Abdruck als Werbung für die Firma hinterlassen sollten. Dadurch erst stellte sich heraus, dass profilierte Reifen bessere Fahreigenschaften bieten.
Weniger bekannt als für Reifen dürfte die Firma für ihre Schienenfahrzeuge sein. Tatsächlich baute sie etliche „Micheline“ (mit e am Ende!) getaufte Modelle, die mit luftbereiften Rädern auf Schienen fuhren. Zwei davon sind heute, nach längeren Restaurierungsarbeiten, wieder auf Madagaskar unterwegs. Die Michelines waren wohl deutlich komfortabler und leiser als klassische Eisenbahnwaggons und -lokomotiven. Trotzdem gewannen sie außerhalb Frankreichs und seiner Kolonien keine Anhänger – angeblich, weil die Eisenbahningenieure nicht flexibel genug waren.
Immerhin die französischen Ingenieure zeigten sich beweglich: In Clermont-Ferrand fährt die Straßenbahn seit 2006 auf gummibereiften Rädern. Nur eine Schiene pro Richtung und zwei metallene Führungsräder geben die Richtung vor. Leise sind diese Bahnen tatsächlich, und sie wackeln auch nicht seitlich hin und her. Allerdings hüpfen sie durchaus spürbar auf und ab. In Clermont-Ferrand fährt bisher nur eine Linie dieser Art, und sie dürfte die einzige bleiben: In Zukunft will man auch hier wieder klassische Straßenbahnen einsetzen. Die Betriebskosten der gummibereiften Variante sind zu hoch, und der Einfluss Michelins reicht nicht, das Experiment fortzusetzen.
Knotenpunkt für Busse und Bahn ist der Place de Jaude, auf dem eine grünspanige Statue an den Kampf Vercingetorix’ gegen die Römer erinnert. Wie üblich in diesem Land, hat man die riesige Fläche mit Pflaster belegt und keinen einzigen Baum oder Strauch gepflanzt. In einer Ecke des Rechtecks steht jetzt eine Art mobiler Schlechtes-Gewissen-Garten: Kübel voller exotischer Pflanzen, unter anderem Bananenstauden. Das ist ganz nett, noch netter wäre eine insgesamt freundlichere Gestaltung.
Offiziell gelten der Place de Jaude wie die umliegenden Straßen als Fußgängerzone. Versenkbare Poller hindern Autos tatsächlich gründlich am Befahren. Gegen die Auswüchse der „Sharing Economy“ mit ihren Lieferdiensten können sie jedoch nichts ausrichten. Das moderne Lumpenproletariat brettert auf Mopeds, vorzugsweise ohne Schalldämpfer, durch die Gassen als gälte es ein Querfeldein-Rennen zu gewinnen. Fußgänger haben immer noch keine Rechte, nur dass sie ihnen jetzt Mopeds statt Autos nehmen. So verkommt die Fußgängerzone zur staatlich bereitgestellten Autobahn der Lieferdienste.
Gute 50 Kilometer nordöstlich von Clermont-Ferrand liegt ein Badeort, der wesentlich berühmter ist als La Bourboule: Vichy. Manche assoziieren damit Kosmetik, andere Mineralwasser, und die ganz Alten womöglich die Pétain-Regierung. Sie saß in diesem Ort von 1940 bis 1944 und regierte den nicht von den deutschen Faschisten besetzten Teil Frankreichs. Allerdings nicht gegen, sondern in Kooperation mit den Nazis. So lieferte die Vichy-Regierung die im freien Teil Frankreichs lebenden Juden an die deutschen Besatzer und damit in die Konzentrationslager aus.
Dieser Teil der französischen Geschichte ist, da weniger ruhmbekleckert als die Résistance oder Vercingetorix, kein großes Thema. Auch nicht (oder vor allem nicht) in Vichy. Dort steht gegenüber von dem ehemaligen Hotel, das die Kollaborationsregierung beherbergte, eine Erinnerungstafel mit einem Text von Serge Klarsfeld. An ihrem Gebäude wollen die heutigen Wohnungseigner sie nicht haben. In der Stadt verteilt hat jemand kleine Plaketten mit einem QR-Code. Wer ihn scannt, erfährt mehr über die Rolle des Ortes während der Zweiten Weltkriegs. Eine Broschüre zum Thema, ein Denkmal, gar ein Museum – Fehlanzeige.
Aber es ist ja auch zu hübsch dort. Gusseiserne Pavillons und Arkadengänge verzieren den etwas angegammelten Kurpark, in den Passagen bieten Juweliere, Modegeschäfte und Läden für Schnickedöns ihr überteuertes Zeug an. Die alten Häuser sind top gepflegt, und auch ohne russische Kurgäste geht’s dem Welterbe-Ort offenbar prächtig. Da würde der Verweis auf die hässliche Vergangenheit nur stören. Als Tagesausflug ist Vichy trotzdem ein lohnendes Ziel, auch wegen des kleinen Afrika-Asien-Museums und einer absurd überdekorierten Art-Deko-Kirche.
Und wie neuerdings überall in Frankreich (oder zumindest in der Auvergne) kann man sich ganz großartig mit den Leuten unterhalten. Wir trafen einen Rentner, der über dreißig Jahre lang in der hiesigen Messerindustrie gearbeitet hatte. Früher ganz groß in Thiers, stehen dort heute nur noch Industrieruinen – „Alles nach China gegangen“, meinte der ältere Herr. Die Franzosen hätten die Globalisierung schlicht lange verschlafen (womöglich auch mangels Fremdsprachenkenntnissen?). Jedenfalls habe sein Betrieb in Thiers pro Jahr 35 Millionen € umgesetzt, während die deutsche Schmiede Henckels mit ihren Zwilling-Messern auf eine Milliarde gekommen sei. Nicht unbedingt ein Beleg für chinesische Überlegenheit, aber sei’s drum.