Le puy von oben

Coquilles St Jacques an Linsen mit Verveine

11.10.2021

Von Puy-Linsen liest man gelegentlich in Rezepten. Mit der Farbe, wie bei roten, schwarzen und braunen Linsen, hat der Name nichts zu tun – er kommt vom Ort Le Puy-en-Velay, der rund 150 Kilometer südlich von Lyon liegt. Andere Leute wären direkt dorthin gefahren, wir machten einen kleinen Abstecher über eins der bewegendsten Bauwerke neuerer französischer Geschichte.

Eine wahre Pilgerstätte, deshalb passte der Umweg gut (dazu später mehr): Scharen junger Menschen, ausgerüstet mit Stift, Block und elektronischem Maßband, umschwärmten die heiligen Hallen, vermaßen die Details und zeichneten sie eifrig ab. Befragt, ob es um die Behebung der allfälligen Bauschäden gehe, verneinten sie. Sie seien Architekturstudenten und erledigten nur das Aufmaß. Ob die Pläne verlorengingen, dass man die Jugend derart beschäftigen muss?

Kirche des Couvent von Tourette
Kein Bunker, sondern die Kirche des Klosters La Tourette, der Ausguss oben könnte für den Heiligen Geist sein.

Die älteren Semester jedenfalls schlichen, leicht vornübergebeugt, Hände auf dem Rücken, ehrfurchtsvoll um diesen Heiligtum gewordenen Beton, den zur Kirche mutierten Bunker… Die Initiierten wissen es schon längst, die Rede ist von Le Corbusiers „Couvent de la Tourette“. Wäre es nicht politisch extrem unkorrekt, der architektonisch unbeleckte Betrachter könnte sich angesichts dieses Meisterwerks von der gleichnamigen Krankheit befallen sehen und womöglich unflätigste Beschimpfungen herauswürgen wollen.

Kloster des Couvent von Tourette
Hier wohnten die Mönche des Klosters von La Tourette, heute quartiert man Tagungsgäste ein. Wenn die dahin wollen.

Das Ding, schön am Hang gebaut, damit man es auch von weither noch sehen kann, ist ein Augenkrebsauslöser erster Güte, ein Paradebeispiel dafür, warum man Beton nicht sehen möchte, eine Warze in der Landschaft, ein ekelhaftes Geschwür, das man aus den Annalen der Architektur tilgen sollte. Stattdessen schicken sie junge Menschen hin, damit die was eigentlich lernen? Einer von ihnen meinte, „innen ist es gar nicht so schlecht“, was hoffen lässt, er möge es äußerlich für ähnlich misslungen halten wie jeder unvoreingenommene Betrachter.

Augenbalsam in der Renaissance-Altstadt

Mit Grausen wandte sich der Gast, bei dem kein Mittagessenhunger sich mehr einstellen mochte. Erst in Puy angekommen, beruhigte sich das gequälte Auge wieder angesichts der dortigen Renaissancehäuser und des kleinstädtischen Charmes. Wunderbarerweise sind viele dieser Häuser farbig, ganz anders als in Paris oder Lyon, wo gräsiges Grau und banales Beige die Fassaden dominieren. Nicht, dass der Ort frei von Bausünden wäre. Bewahre, schließlich ist er Ausgangspunkt des französischen Jakobswegs, also Katholen-Zentrum. Aber die dräuende Kathedrale und die kitschige Madonna über der Stadt ruinieren den Gesamteindruck glücklicherweise nicht.

Panoramablick über Le Puy-en-Velay, 1 Panoramablick über Le Puy-en-Velay, 2Der Blick von der Marienstatue in Le Puy zeigt, wo überall Vulkane aktiv waren. Auf dem oberen Bild sieht man ganz hinten die Festung Polignac, weiter vorne die Kirche St. Michel auf ihrem Felsen

Wo jetzt Le Puy steht, war einmal ein großer, großer See. Vor rund 1 Million Jahren begannen einige Vulkan darin, sich in der Welt umzusehen. Allzuweit kamen sie nicht, aber ihre Hinterlassenschaften prägen noch heute die Gegend: Puy liegt in einer Ebene, aus der sich rundherum Berge und Berglein erheben, einige davon sehr abrupt. Andere sanfter, sodass Orte an den Flanken hochwachsen konnten. Ganz oben in Le Puy bauten die Katholiken dann die erwähnte Kathedrale, ein imposantes romanisches Ding, in der Hauptsaison abends mit Lichtspielen aufgemöbelt.

Kathedrale von Le Puy-en-Velay mit Treppe von schräg unten
Weit oberhalb der Stadt droht dräuend der Dom von Le Puy. Drinnen geht es streng bis schwülstig zu.

Darunter liegt die Altstadt, überwiegend aus der Renaissance, die eines der Touristenhighlights Frankreichs sein soll. Jetzt im Herbst merkt man davon nichts, die Gassen sind abends menschenleer und die Gastronomen sehnen sich nach Kundschaft. Uns gefällt’s natürlich besser als müssten wir uns durch Menschenmassen kämpfen. Auch gepilgert wird gerade nicht, vielleicht hilft gegen die abend- und morgendliche Kälte nicht einmal der festeste Glaube.

Fuhr der Erzbischof selbst oder nicht?

Ausgangspunkt des Pilgerwesens soll, so die allgemeine Ansicht, die Reise des Erzbischofs Godescalc nach Santiago de Compostela im Jahr 950 gewesen sein. Allerdings war unser Führer im Schloss Rochelambert anderer Meinung: Godescalc habe vielmehr jemanden nach Compostela geschickt, um ein Manuskript zu holen. Die ganze Jakobs-Pilgerei habe erst viel später begonnen… Man trifft in diesem Land, scheint uns, häufiger als anderswo auf Leute, die „mehr“ oder „anderes“ wissen als Wissenschaftler und andere Fachleute. Offenbar betrifft das nicht nur Impfungen, sondern auch den Ursprung religiöser Veranstaltungen.

Wie auch immer, heutzutage geht es für französische Compostela-Reisende in Le Puy los, und folglich ist der Ort übersät mit Anklängen an St. Jacques: Restaurants, Boutiquen, Lebensmittelgeschäfte führen den Heiligen im Namen, überall sieht man die Muschelschalen auf Schildern und Plaketten. Nur auf den Menüs taucht die Coquille St Jacques, erstaunlicherweise, fast nie auf (Ausnahme eine Crêperie). Vielleicht ist der Atlantik so weit weg, dass die Köche das Risiko unfrischer Muscheln scheuen.

Linsen hingegen bekommt man überall, allerdings nur in der Kombination mit Wurst. Das ist durchaus lecker, aber doch etwas erstaunlich, dass in den letzten paar hundert Jahren hier niemand auf die Idee gekommen sein sollte, mit den Hülsenfrüchten noch etwas anderes anzustellen als sie zu kochen und neben eine gekochte oder gebratene Wurst zu drapieren. Das von Google Maps verzeichnete Linsen-Museum ist übrigens, in den Worten einer Mitarbeiterin, „ein großes Wort“. Tatsächlich handelt es sich um einen Laden für getrocknete Hülsenfrüchte aller Art, der auf einem großen Bildschirm einen unscharfen Bildungsfilm über Linsen zeigt. Schade eigentlich, in Parma machen sie sicherlich mehr aus ihrem Schinken und Käse, und in der Champagne ohnehin aus dem Britzelwein.

Ein Keks mit Verveine-Geschmack Eine andere lokale Spezialität ist „Verveine“, auf Deutsch „Zitronenverbene“, ein Eisenkrautgewächs. Das kommt hier als Likör auf den Tisch, als verdünnter Sirup, in der Crème brulée, als giftig-grüner Keks oder als Eis. Schmeckt alles nicht schlecht, aber auch nicht so, dass wir es zuhause vermissen werden.

Kulturell geht es hier überschaubar zu. Im Theater gastiert maximal einmal pro Woche jemand, und das einzige lokale Museum muss von der Eiszeit bis zur Gegenwartskunst alles abdecken. Dafür haben sich in Le Puy in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur Bischöfe, sondern auch Herzöge und andere Adelige ausgetobt: Hier am Oberlauf der Loire stehen durchaus nicht weniger Schlösser als weiter unten. Aber die anderen sind eben bekannter und machen schon auf den ersten Blick mehr her.

Die Burg Polignac bei Le Puy-en-Velay aus der Ferne.
Die Festung der Familie Polignac ist von weither gut zu sehen. Eroberer dürften keine Chance gehabt haben.

Bei Le Puy baute sich die Familie Polignac zunächst im 11. Jahrhundert eine Burg auf einen einsamen Felsen. Ein uneinnehmbares Teil, aber auch recht zugig. Weshalb die Herzöge dann ein paar Kilometer weiter in einer Schleife der Loire sich ein Schlösschen hinstellten, das über die Jahrhunderte zum veritablen Schloss wuchs. Man kann es besichtigen, muss dazu aber von der Pforte die Wärterin herbeitelefonieren. Die alte Dame braucht ein paar Minuten, bis sie herangeschlurft ist und berichtet dann über den wichtigsten Spross der Familie Polignac, einem Kardinal. Der sei Botschafter am Vatikan gewesen, sehr, sehr wichtig, habe allerhand Kunst gesammelt. Nach seinem Tode kaufte der „deutsche Kaiser“ (gemeint ist Friedrich II) die Kunstwerke, die heute noch im Schloss Sans Souci zu sehen seien.

Das Schloss Polignac in einer Schleife der Loire Das Schloss in der Loire-Schleife hat jedenfalls allerhand durchgemacht: Es wurde verstaatlicht, die Eigentümer flohen, kehrten dann später zurück und erhielten oder kauften ihre Latifundien wieder. All das war nur von der Führerin zu erfahren, deren Erzählung allerdings nicht immer ganz kohärent schien; in den Räumen fanden sich keinerlei Erklärungen. Immerhin, der rote Faden war klar: Die Polignacs waren eine sehr große, sehr alte, sehr wichtige und sehr einflussreiche Familie. Das deutsche Faltblatt verriet auch nicht viel mehr, es beschränkte sich darauf, die auf den Gemälden Porträtierten zu nennen.

Im Sommer wohnen einige davon sogar im Schloss, während die Festung bei Le Puy zum großen Teil verfallen ist. Aber immerhin gibt es dort ausführliche Erklärungen zu den verschiedenen Teilen der Burg, einschließlich der 250 Kubikmeter fassenden Zisterne. Wenn man aufs Waschen verzichtet, sollte das schon für eine längere Belagerung ausgereicht haben. Heutzutage langt es gerade für den Jahresverbrauch von acht Leuten. Sogar einen Mittelaltergarten haben die Polignacs auf der Festung wieder angelegt.

Außenansicht des Schloss’ Rochelambert
Das Schloss Lambert sieht aus wie ein Stein gewordener Jungstraum.

In der Nähe des Chateau der Polignacs liegt das Schloss Rochelambert. Dort gibt es Führungen nur am nachmittag zur vollen Stunde, und nur auf Französisch. Der heisere Guide macht jedoch bereitwillig Pausen in seinem Vortrag, fürs Übersetzen. Und er klärt auf, dass die Herren von Polignac nun wirklich keine wichtigen Persönlichkeiten, sondern der Bodensatz des hiesigen Adels gewesen seien. „Sein“ Schloss, so erfahren wir, sei an dieser wenig herausragenden Stelle errichtet worden, um die lokalen Handelsrouten zu schützen. Es gehört inzwischen einem Antiquitätenhändler (oder dessen Familie), der das Gebäude mit Möbeln aus seiner Sammlung wieder aufgefüllt hat – das Original-Interieur ist über die Jahrhunderte verlorengegangen. Das Gebäude sieht so aus, wie sich Friedrich Wilhelm III Schlösser vorstellte und im 19. Jahrhundert am Rhein hinbaute. Mit dem Unterschied, dass Rochelambert wirklich alt ist. Man möchte es nicht unterhalten müssen, aber als Klein-Jungen-Traum ist es perfekt.

Mittagessen trotz geschlossener Küche

Rundum und zwischen den Schlössern kann man spazieren gehen oder wandern. Und anders als im Westharz oder anderen Wandergegenden Deutschlands muss niemand befürchten, dabei zu verhungern. Irgendwo am Marktplatz steht tatsächlich ein Bistro oder ein Café oder gar ein Restaurant, es hat geöffnet. Und selbst wenn die Küche eigentlich wegen einer großen Gesellschaft geschlossen ist, bekommt man ein Sandwich, dass bis zum Abend reicht. Oder es gibt nur das Menü, für schlappe 17 € und so lecker, dass wir nochmal nur zum Essen dahin fahren wollen.

Allerdings: Geöffnet haben Restaurants auch hier durchaus nicht immer: Sonntag und Montag sind beliebte Schließtage, und zwischen 14 und 19 Uhr gibt es kaum Hoffnung auf Nahrung. Ein bisschen Planung ist also nötig. Aber wenigstens bleibt der hungrige Gast hier nicht trotz leerer Tische außen vor.

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