Hongkong skyline von victoria peak mit wolken

Rentnerfrühstück zwischen Randale und Regen

4.9.2019

Aufregende Zeiten lautet der in Hongkong zurzeit gerne benutzte Euphemismus. Seit 14 Wochen demonstrieren mehr und mehr Einwohner gegen ein Gesetz, dessen Entwurf die Regierung bereits zurückgezogen hat. Noch zwei Wochen vor unserer Ankunft blockierten Demonstranten den Flughafen so gründlich, dass zwei Tage lang alle internationalen Flüge ausfielen. Kurz danach protestierten fast zwei Millionen Menschen im Regen gegen das halbtote Gesetz, die Regierung und Polizeigewalt – ein Viertel der Bevölkerung.

Doppelstöckige Straßenbahnen, Queens Road Hongkong
In der Queens Road in Hongkongs Innenstadt fahren doppelstöckige Straßenbahnen ein kurzes Stück.

Während der knappen Woche, die wir hier zugebracht haben, war jedoch von all dem Aufruhr fast nichts zu spüren. Keine Polizeipräsenz in den Straßen, keine Drängelgitter, mit denen deutsche Polizei Demonstranten auf bestimmten Wegen hält, und keine zerbrochenen Scheiben. Nur gelegentlich waren Parolen an Wände gesprüht oder Flugblätter geklebt, etwa für einen Kaufboykott jeden Freitag und Samstag.

Flugzettel, der zum Kaufboykott an Wochenenden aufruft Graffito „Keep Hongkong free” an einer Hausecke
Gelegentlich mal Flugzettel wie der zum wochenendlichen Kaufboykott aufrufende links oder ein Graffito – mehr war von den politischen Auseinandersetzungen in Hongkong nicht zu sehen.

Demonstrationen und Prügeleien fast ohne Spuren

Es fällt schwer, diese Eindrücke mit den Berichten in Guardian, Süddeutscher Zeitung und der Hongkong Free Press in Einklang zu bringen. Letztlich dürfte es so sein wie Anfang der achtziger Jahre in Berlin-Kreuzberg: Randale dort (inklusive abgebrannter Supermarkt, geplünderter Getränkeshop und demolierter Autos), normaler Alltag überall sonst. Mit dem Unterschied allerdings, dass in Hongkongs Geschäfts- und Regierungsviertel morgens von den Nachts geworfenen Brandsätzen und Steinen keine Spur zu sehen ist. Entweder räumt man hierzulande sehr schnell auf oder wir waren immer an den falschen Stellen unterwegs. Einzig drei gesperrte U-Bahnhöfe, auf denen Polizei wahllos Passagiere zusammengeschlagen hatte, deuteten auf eine Abweichung von der Normalität hin.

Pseudo-alte Dschunke vor der Skyline von Hongkong
Hongkong präsentiert sich als ultra-moderne Großstadt mit Reminiszenzen an eine romantisierte Vergangenheit.

Diese Normalität zeichnet sich einerseits durch kaum überbietbare Effizienz aus: Eine Stunde nach der Landung saßen wir samt Gepäck im Bus vom Flughafen in die Stadt – Passkontrolle, Bargeld- und Ticketbeschaffung schon erledigt. Andererseits wirkte die Ankunft im Hotel wie eine kleine Zeitreise zurück ins 20. Jahrhundert: Zwar benutzte die Rezeptionistin einen Computer, aber bis endlich alles erledigt war und wir unsere Zimmerkarten hatten, dauerte es eine kurze Ewigkeit. Wir waren schon auf dem Weg zum Aufzug, da rannte sie uns noch mit einem Zettel hinterher. Der bat uns, einen Briefumschlag am Empfang abzuholen, wie wir allerdings erst oben im Zimmer feststellten. Es wäre sicherlich auch umständlicher gegangen, aber nur mit viel Mühe.

Schöne digitale Welt – aber nur mit Bargeld

Solche Dissonanzen zwischen Gestern und Morgen, digital und analog bemerkt man immer wieder. Etwa bei der großartigen Octopus-Card, die hier als wiederaufladbarer Fahrschein und sogar digitales Portemonnaie fungiert. Am Flughafen schnell beschafft und mit einem Startguthaben ausgestattet, durchschritten wir mit ihr zig Sperren der U-Bahn und bezahlten etliche Bustickets. Irgendwann musste das Guthaben dann aufgeladen werden. Dazu gibt es Maschinen im U-Bahnhof, die den aktuellen Stand anzeigen und dann … tja, dann muss man mindestens 50 Hongkong-Dollar in Münzen oder Scheinen haben, denn weniger darf man nicht aufladen. Kreditkarten akzeptieren die Maschinen nicht. Auch nicht das in Festlands-China ubiquitäre Bezahlen per Handy.

Passende Scheine hatten wir zwar genügend, aber der Automat verhielt sich ihnen gegenüber viel wählerischer als etwa die BVG-Maschinen in Berlin. Was dort anstandslos durchgegangen wäre, spuckte die Kiste hier immer wieder aus. Anders als zuhause allerdings gibt es hier dann einen Schalter, dessen Besatzung das Gewünschte wesentlich schneller erledigt als die moderne Technik. Sobald man drangekommen ist.

Wo Angestellte Fahrstuhltüren aufhalten

An menschlichem Personal herrscht hier nirgendwo Mangel. Es gibt Angestellte, die den Besuchern bei der Passkontrolle lächelnd (!) den Weg weisen, im Einkaufszentrum auf Nachfrage Cafés empfehlen, mit Reisigbesen Laub von öffentlichen Wegen puscheln, beim Frühstück Kaffee in der Küche bestellen und andere, die ihn dann bringen. Der bislang merkwürdigste Job von allen: Fahrstuhltüraufhalter in der Hotellobby. Angesichts der Preise müssten die Löhne für so viele McJobs viel zu hoch sein.

Doch der Mindestlohn beträgt zurzeit nur 37,5 HKD pro Stunde, das sind rund 4,30 Euro. KellnerInnen sollen 56 HKD bekommen, also etwa 6,45 Euro. Allerdings spendieren ihre Gäste in der Regel kein Trinkgeld. Eine Bus- oder U-Bahn-Fahrt kostet um die 10 HKD (ohne Umsteigen), ein günstiges Bier 25. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf kommt Hongkong direkt nach der Schweiz, was kaum an den hiesigen Einkommen liegen dürfte. Immerhin, alte Leute wie wir bekommen beim Frühstück im Hotel 20 Prozent Rabatt.

Jobs für Alte dank vietnamesischen Essens

Apropos alte Leute: Um die Ecke von unserem Hotel beschäftigt das reizende Restaurant „Viet Street” ausschließlich Mitarbeiter über 65 (nur der Manager ist jünger, meinte er lachend). Es gibt, wenig überraschend, vietnamesisches Essen und wenn man will, Kumquat-Bier. Das schmeckt zwar komisch, aber man bekommt immer zwei zum Preis von einem. Und die alten Herren und Damen freuen sich wie die SchneekönigInnen über Gäste. Barkeeper Thomas wollte uns sogar beim nächsten Besuch ein Kumquat-Bier spendieren, hat das aber dann wohl doch vergessen. Betreiber des Ganzen ist eine gemeinnützige Firma, und der Hauseigentümer überlässt ihr die Räume für eine geringe Miete. Mehr zum Konzept und zur Architektur online.

Halbleeres Glas mit Kumquat-Bier Junge Leute essen im Restaurant „Viet Street” in Hongkong
Das Kumquat-Bier im „Viet Street” sieht relativ normal aus, schmeckt aber eigenartig und dröhnt ordentlich. Zu zweit schafft man es leider nicht so viele Gerichte zu probieren wie die üblichen lokalen Großgruppen.

Genug über Geld. Ausgeben kann man es, wie überall in Asien, auf Schritt und Tritt. Shopping-Center, chinesische Apotheken, Lädchen mit Wasser und Chips, (überwiegend) scheußliche Handyhüllen: Alles gibt es, und von allem gefühlt viel zu viel. Wovon es nicht zu viel gibt, ist Kunst. Das hiesige Kunstmuseum hatte geschlossen. Das Hongkong Cultural Centre ist zwar offiziell geöffnet, die Theater sind aber noch in der Sommerpause. Im Erdgeschoss gab es einiges Gemaltes, das aber erfolglos um das Etikett „Kunst” rang. Und die in der vierten Etage versteckte Exhibition Hall glänzte bei verrammelten Türen vor allem durch einen einsamen, funktionsfähigen Getränkeautomaten in einem leeren Flur – angenehme Erholung von der wuseligen Stadt.

„Traditionelle Hochzeit”, Gemälde von Mio Pang Fei Detail des Hongkong Cultural Centre
Zeitgenössische Kunst gibt es eigentlich an fast jeder Ecke, hier links „Traditionelle Hochzeit” von Mio Pang Fei. Man muss die Ecken nur finden. Das Hongkong Cultural Centre rechts hatte zwar viele davon, aber außer gruseliger Architektur nichts zu bieten.

Schließlich fanden wir doch noch zeitgenössische Kunst. Zuerst in einem Gebäude in der Queens Road 80, dem von außen nicht anzusehen ist, dass sich darin rund zehn schicke Galerien befinden. Man kann sich von der 16. bis zur 6. Etage herunterarbeiten und bekommt zig mehr oder minder gute moderne Werke zu sehen, meist von chinesischen KünstlerInnen. Anschließend stolperten wir noch über das Visual Arts Centre im Hongkong Park – klein, aber einige interessante Werke. Unter anderem ein paar Zeichnungen mit schwulen Motiven.

Zwei schwule Jungs im Bett
Im Visual Art Centre Hongkong stellte auch ein schwuler Künstler seine Zeichnungen aus.

Fast wie Manhattan, aber noch enger

Gammelndes Haus in der Nathan Street, Hongkong Wer sich Hongkong als dicht gedrängten Haufen von Glaspalästen vorstellt, liegt ziemlich richtig. Dazwischen finden sich immer wieder leicht angegammelte Bauten aus den 60er Jahren oder später, aber das Ganze erinnert stark an Manhattan – nur, dass der Stadtpark etwas kleiner und der Platz zwischen den Wolkenkratzern in Hongkong noch etwas knapper ist. Was aber auch sein Gutes hat, denn unter den Markisen und Dachüberständen gelangt man trotz der häufigen Tropenschauer fast trocken durch die Stadt. Nur auf die Regenschirme muss man aufpassen, von denen sich viele in unserer Augenhöhe befinden.

Zellen im alten Gefängnis von Hongkong
Zellen im alten Gefängnis im Polizeihauptquartier von Hongkong. Hier gab es keine Toiletten für die Häftlinge, aber Prügel bei Fehlverhalten.

Von den britischen Kolonisatoren, die Hongkong Ende des 19. Jahrhunderts für ihre Siege in den Opium-Kriegen abstaubten, ist nur noch wenig zu sehen. Am markantesten fanden wir den Komplex des ehemaligen Polizeihauptquartiers mit Gericht und Gefängnis – quasi eine integrierte Strafrechtseinheit. Er beherbergt jetzt Ausstellungen zur Rechtsgeschichte der Kolonie in den Originalgebäuden und zwei hässliche moderne Galerie-Klötze von Herzog/de Meuron (die auch am „Vogelnest” in Beijing beteiligt waren). Zu sehen gab es die Werke eines berühmten Japaners, von dem wir noch nie gehört hatten und auch nicht unbedingt wieder hören wollen. Manche asiatischen Künstler verwenden zu viele Farben, zu schwellende Formen und malen zu große Augen.

Buntes Bild vor bunter Wand mit buntem Teppich
Ein berühmter, uns unbekannter japanischer Künstler hat sich auf Teppiche, Tapeten und Bilder mit möglichst vielen Farben spezialisiert. Manche mögen’s.

Kostenlos vom Schiff zu den Banditen

Zwischen alten Häusern in Macau ragt das Grand-Lisboa-Kasino empor Für mehr koloniale Eindrücke besteigt man in Hongkong ein Schiff nach Macau, vorzugsweise zum „äußeren Hafen” in der Nähe der Altstadt. Weil für Hongkong Regen und Demonstrationen angekündigt waren, taten wir das auch. Eine Stunde nach Abfahrt spuckt das Boot seine Passagiere auf portugiesischem Boden unter chinesischer Verwaltung aus. Macau-Kenner hetzen sofort vom Terminal zu einem der Shuttle-Busse, die die örtlichen Kasinos kostenlos bereitstellen. Wir wurden, vermutlich wegen zu schäbigen Aussehens, in einen Minitransporter gestopft, der uns in der Tiefgarage des „Grand Lisboa”-Kasinos direkt am Hinterein- und Notausgang bei den einarmigen Banditen absetzte. Die großen Luxusbusse fahren ihre vermeintlich wohlhabenderen Gäste zum pompösen ebenerdigen Entrée, wo sie von Angestellten in Phantasieuniformen in Empfang genommen werden.

Altes portugiesisches Haus im Zentrum von Macau
Die Altstadt von Macau kultiviert das Erbe der portugiesischen Kolonialzeit.

Dass die meisten Besucher zum Zocken nach Macau kämen, stimmt wohl nicht: Die Altstadt war gerammelt voll mit Touristen, die sich europäisches Flair um die Nase wehen lassen wollten. Oder zumindest etwas weniger erdrückende Architektur angucken. Außerhalb dieses kleinen Bereichs mit Kirche, Rathaus und anderen repräsentativen Gebäuden wird es deutlich leerer und alltäglicher, wirkt aber immer noch sehr portugiesisch. Abgesehen von dem einen oder anderen buddhistischen Tempel und den gelegentlich zwischen den zwei-, dreistöckigen Häusern hervorragenden Spieltempeln mit ihrer Las-Vegas-Anmutung. Übrigens hat Portugal mehrmals versucht, das Landstückchen den Chinesen anzudrehen, die haben aber immer abgewunken. Jetzt verwalten sie es nur, und rund 100.000 chinesische Bewohner Macaus haben einen portugiesischen EU-Pass.

Vögel von gestern als Kunst von heute

Katze im Bambusgarten, traditionelle chinesische Zeichnung Mitte 20. Jahrhundert Ein schickes, großes Kunstmuseum gab’s in Macau auch, mit Bushaltestelle vor der Haustür. Ganz oben zeigte es Zeichnungen eines berühmten Chinesen, der auch im 20. Jahrhundert noch dasselbe malte wie seine Kollegen in den 1000 Jahren vorher: Vögel, Blumen, Zweige, Berge. Vermutlich wissen Kunstwissenschaftler, warum es in manchen Gegenden als schick gilt, immer wieder alles genauso zu machen wie die Vorfahren (orthodoxe Kirche, islamische Kunst, China). Wir eilten jedenfalls ratlos und gelangweilt hindurch, um in den unteren Etagen durchaus interessantere und gegenwärtigere chinesische Malerei zu finden.

Beschriftet ist übrigens vieles, nicht nur die Kunst, auf Englisch und Chinesisch. Genauer gesagt: Englisch und Mandarin. In diesen beiden Sprachen machen U-Bahnen, Busse und Aufzüge auch ihre Durchsagen. HongkongerInnen allerdings finden Mandarin häufiger mal blöd. „That’s not my language, my language is Cantonese,” meinte etwa die Omelette-Braterin im Hotel, als ich sie mit meinem mageren Chinesisch unterhalten wollte. So ähnlich wie Katalan und Spanisch in Barcelona, vielleicht.

Mi fàn gegen die Schärfe

Manchmal klappte es aber doch, etwa in einem Restaurant, in dem die Kellnerin mein durch den Lärm der örtlichen Geburtstagsfeier gebrülltes „mi fàn“ nicht nur bestätigte, sondern tatsächlich wenig später mit einer Schüssel Reis neben unserem Tisch stand. Rettenderweise, denn jedes einzelne unserer vier Gerichte bestand gut zur Hälfte aus Chilischoten, das Huhn war noch ein bisschen mit grünem Pfeffer aufgepeppt. Da beruhigt nur Reis die ächzenden Geschmacksknospen.

Kerzen zum 40. Geburtstag werden angezündet
40 Kerzen zum Geburtstag wollen erstmal angezündet sein. Die Feier fand in einem chinesischen Restaurant statt und verursachte kaum weniger Lärm als ein startender Düsenjäger.