Blick von gulang yu nach xiamen

Um die Insel, um die Häuser, ums Büffet

15.9.2019

In Guangzhou setzten wir uns in den Zug nach Xiamen. Was in Europa einfach nur „einsteigen” bedeutet, ist in China etwas aufwendiger. Zunächst muss man beim Betreten des Bahnhofs sich und das Gepäck durchleuchten lassen. Dann gilt es, mit Reisepass und Ticket in der Hand den richtigen Warteraum zu finden. Ja, Reisepass. Wir sind ja nicht in irgendeinem unordentlichen Land, wo jemand einfach ein Ticket kaufen, es jemanden anders in die Hand drücken und den dann damit durchs Land schicken kann. Hier sind alle Bahnfahrkarten personalisiert (wie auch in Georgien, und die EU hätte so etwas auch gerne), und Teile des großen Sicherheitsapparats kümmern sich darum, dass jeder nur mit seinem eigenen Ticket fährt.

Abfahrtstafel Zug: Noch warten Abfahrtstafel Zug Ticketkontrolle
Links ist noch kein Zug zum Einsteigen bereit. Rechts ist es Zeit, zur Ticketkontrolle und zum Bahnsteig zu gehen. Der Zug nach Xiamen ist der dritte von oben, wie man auf der linken Anzeige leicht sieht.

Bloß nicht einfach einsteigen und losfahren

Im Warteraum für unseren Bahnsteig saßen geschätzte 1000 Menschen. Etwa alle 30 Minuten fährt ein Zug von diesem Bahnsteig ab, und rund 20 Minuten vorher verkündet die Anzeigetafel, man möge nun bitte zur Ticketkontrolle gehen. Weil eh kaum Ausländer unterwegs sind, verlangt sie das auf chinesisch. „Warten” sieht aus wie ein Tannenbaum; wenn der sich ändert und die ganze Zeile rot wird, muss man los. Wir waren so früh dort, dass wir genügend Zeit hatten, den Ablauf zu kapieren. Und als wir dran waren, kontrollierte dann doch niemand mehr das Ticket – erst wieder im Zug. Immerhin, das beruhigte unsere aufkeimenden Zweifel an der revolutionäre Wachsamkeit.

Eisenbahnlinie auf Stelzen
Schnellbahnlinien fahren auf Stelzen durch die Landschaft und bei Bedarf durch Wohngebiete.

Jedenfalls trafen wir knapp fünf Stunden später auf der Insel Xiamen gegenüber von Taiwan ein. Ja, pünktlich, und ja, die Klimaanlage funktionierte die ganze Zeit anstandslos. Die Toilette war nicht verstopft, dafür aber das Waschbecken unter dem öffentlichen Warmwasserspender. Den brauchen die Leute hier, um sich ihre Instantnudelsuppen zuzubereiten. Aber jetzt bitte nicht wieder „In China geht’s doch, die Deutsche Bahn kann es einfach nicht” rufen.

Chaotische Elektroinstallation mit Kamera in Xiamen
Trotz aller Sabotageversuche chinesischer Elektriker funktionieren Stromversorgung und Kameraüberwachung stets auf das Fehlerfreieste.

Hauptsache, schnell durchs Land

Abgesehen davon, dass es kein WLAN im Zug gab (auch nicht gegen Geld) und keinen Speisewagen und keine Ansagen auf Englisch und große Gepäckstücke auch nicht besonders gut mitkommen: In der 4-Millionen-Stadt Xiamen fahren etwa acht Fernzüge pro Stunde, vier je Bahnhof. Nahverkehrszüge scheint es nicht zu geben, und die chinesische Bahn bietet pro Quadratkilometer etwa ein Sechstel der Streckenlänge wie die deutsche. Die neugebauten Schnellzugstrecken stehen oft auf Stelzen, und vermutlich hat niemand die in der Nähe Lebenden gefragt, wie sie das finden. Oder sich um das hiesige Äquivalent zur Trottellumme gekümmert, die Baupläne durcheinander bringen könnte. Und es ist ja auch nicht ganz zu verachten, dass wir zu Hause ein namenloses Ticket kaufen und Zug fahren können, ohne dass Partei, Staat und Polizei davon wissen. Noch.

Begrünte Hochstraße in Xiamen
Nicht nur in Xiamen werden Hoch- und andere Straßen gerne üppig begrünt.

In Europa ist eine Siedlung mit vier Millionen Einwohnern eine Großstadt. Xiamen … naja. Irgendwie schon, denn es gibt große Wohnblocks, große Straßen, Supermärkte, Restaurants und Shopping-Center. Andererseits wirkt manches doch recht schläfrig. So stehen an den meisten Bushaltestellen nicht einmal die Nummern der Linien. In den Bussen hört man die Ansagen und und sieht die Anzeigen nur auf Chinesisch, und man muss Fahrkarten passend bar bezahlen. Westler haben hier Seltenheitswert. Bekämen wir für jeden mehr oder weniger verhohlenen interessierten Seitenblick einen Euro, der Aufenthalt wäre refinanziert.

Trockenfisch und Trockenobst in der Fußgängerzone von Xiamen
Eine Spezialität von Xiamen sind getrocknete Lebensmittel. Hier wie an vielen Stellen Fisch direkt neben Kiwi und anderem Trockenobst.

Fisch, Obst? Getrocknet muss es sein!

Die Touristen, die Xiamen besonders gerne am Wochenende überfluten, kommen aus dem Rest Chinas und vor allem aus Taiwan. Beliebt ist der Ort offenbar wegen seiner hunderte Meter langen Fußgängerzone. In den einheitlich klassizistisch gestalteten Gebäuden findet man vor allem Lebensmittelgeschäfte mit Früchte- und Gewürztees, getrocknetem Meeresgetier von Krabben über Seetang bis zu großen Fischen direkt neben getrockneten Kiwi, Mango und Ananas – das dürfte dem Obst ein ganz eigenes Aroma verleihen. Außerdem verkaufen Straßenstände Grillspieße (Fleisch, Tinten- und anderer Fisch) und zig Restaurants zeigen neben dem Eingang in Aquarien das, was man drinnen gedünstet, gebraten, gegrillt oder gesotten auf den Teller bekommen kann.

Tintenfisch mit Käse wird gebraten Frau schabt Nudeln in die Suppe
Links braten kleine Calamari in (vermutlich) Käse, rechts schabt die Dame Nudeln vom Block in die Suppe.

Essen ist hier eine Lust und eine Last. Es gibt so viel verschiedenes, und so vieles, was wir nicht kennen oder identifizieren können, dass sich das Hotel-Büffet als besonders abwechslungs- und lehrreicher Ort für die Nahrungsaufnahme bewährt hat. Da kann man einen Teelöffel von glibbrigem Irgendwas auf den Teller legen und liegen lassen, wenn es nicht schmeckt. Was allerdings die Ausnahme ist.

Büffet funktioniert anders als in Europa. Zwar bedient man sich an bekannten Reihe von Schüsseln und Tellern. Aber gleichzeitig dürfen Gäste auch am Tisch allerlei bestellen, das in der Küche frisch zubereitet und dann gebracht wird. Im ersten Anlauf wären wir daran beinahe gescheitert, da es nur eine digitale Speisekarte gab: ein QR-Code auf einem steinernen Aufsteller, an den die chinesischen Esser einfach nur ihr Handy hielten und von WeChat erfuhren, was es heute gibt. Kein WeChat, kein frisch hergestelltes Essen? Nee, für uns zückte die Kellnerin ihr Smartphone und scannte den Code. Da die daraufhin angezeigte Speisekarte nur Bildchen und landessprachliche Erläuterungen enthielt, rief sie den Koch (mit hoher weißer Mütze, so ist das hier). Er erklärte auf Englisch, um was es sich handelte.

Fische in Bratpfanne zum Frühstück in Xiamen Reste vom Essen
Den zum Frühstück angebotenen Fisch haben wir ausgelassen. Das andere sind Teile eines Abendessens: dicke Bohnen, Kimshi, undefinierbare gelbe gebratene Scheibe und Fleisch in Alge, auch gebraten.

Ein mühsamer Weg zum kleinen Ziel

So landete denn zwischen unseren Ausflügen zum Büffet immer mal wieder etwas aus der Küche auf dem Tisch, das meiste davon bestellt. Nicht bestellt hatten wir das das mit einem Blatt abgedeckte Tontöpfchen, in dem eine Suppe mit Einlage schwappte. Um was es sich bei den Feststoffen handelte, bekamen wir nicht heraus. Nur so viel: Der weißliche, daumendicke Stoff schmeckte nach nichts, hatte aber eine Konsistenz, die nach dem ersten Bissen keine Lust auf weitere machte. Auch die Krebse begeisterten uns nicht so recht: Sicherlich eine Delikatesse, aber bis man an das bisschen Fleisch in den Panzern herankommt, ist der halbe Abend vergangen. Und sättigend wirken sie auch nicht.

Es gab ja noch genügend anderes, etwa die gebratene Seegurke. Hätten wir normalerweise nicht bestellt, aber da sie im Angebot war… Schmeckte ziemlich neutral, jedenfalls nach weniger als die zahlreich daneben schwimmenden Pilze. Anderswo bekamen wir Austern-Omelette (im Nachhinein: Das waren bei dem Preis sicherlich keine Austern) und Suppe mit fünf verschiedenen Klößchen, gebratenen Lotus, undefinierbare gelbe, süßliche Scheiben (gebraten), ebenfalls gebratene grüne Scheiben (außen Algen, innen Fleisch), allerlei Spießchen von Huhn und Lamm und so, Kimchi, dicke Bohnen, Dim Sum mit Hai und mit Shrimp und mit was Süßem, eingelegte Walnüsse, gedämpfter Tintenfisch mit Tofu, glibbrige Pilze mit viel Chili und Knoblauch, Erdnusssuppe (verzichtbar, aber jetzt wissen wir, dass man Erdnüsse offenbar weich kochen kann), vergorene Kokosmilch, Gurkenknospen…

Meistens wählen wir nach Augenschein, weil die Speisekarten keine englischen Texte, sondern nur (im besten Fall) aussagekräftige Bildchen enthalten. Oder man zeigt eben drauf, in der Hoffnung, dass nicht scheußlich schmeckt, was ok aussieht. Hat bisher geklappt.

Großer Baum vor Stein mit Kalligraphie in Gulangyu
Der riesige Baum beschattet einen mit Kalligraphie aufgehübschten Felsen in Gulangyu.

Seetang als Getränk in Gulangyu Gegenüber von Xiamen liegt das Inselchen Gulangyu, als Ausflugsziel sehr beliebt. Die Fähren legen direkt gegenüber von unserem Hotel ab, nehmen uns aber nicht mit. Denn sie sind nur für „Einheimische”, was wohl Bewohner Xiamens meint. Alle anderen, auch Chinesen, müssen zum „International Cruise Terminal” vier Kilometer weiter. Zum Glück hat ein Bus dort seine Endhaltestelle, und wer einen Reisepass vorzeigen kann, bekommt auch ein Fährticket. Drüben angekommen, ist es ein wenig wie auf Büyükada bei Istanbul oder auf Capri: Alte Villen aus der Zeit der britischen Besatzung, enge Straßen, viele Shops und Restaurants. Speziell dürften allerdings die Stände sein, die Getränke auf Basis von Seetang verkaufen. Das war uns dann noch zu schleimig.

Kein Wechselgeld bei den ehemaligen Bankern

Anders als in Xiamen findet man in Gulangyu Museen. Eins über Orgeln, eins über Pianos, eins über Kalligraphie und eins mit Bildern aus Fischgräten. Ein Aquarium steht auch dort. Passte alles nicht so recht zu unseren Interessen, also liefen wir nur so herum und tranken einen Cappuccino in einer ehemals der HSBC gehörenden Villa. Schick, hübscher Ausblick und der gründlichste Cappuccino unseres Lebens – die Zubereitung dauerte 25 Minuten. Dafür hatte der Laden weder Wechselgeld noch Toilette, aber man soll ja nun auch nicht zu anspruchsvoll sein in einem ehemaligen Banker-Schuppen.

Hochzeitspaar in Gulangyu
Überaus beliebt ist Gulangyu als Kulisse für Hochzeitsfotos. Es dürfte sich allerdings um Bilder vor der eigentlichen Veranstaltung handeln, die man für die Einladungen braucht.

Angesehen haben wir uns auf Gulangyu das Museum eines führenden patriotischen Feldherren, der vor rund 300 Jahren den kolonialistischen Niederländern auf Taiwan eine empfindliche Niederlage bei- und die chinesische Sache voranbrachte. Martialische Bilder, heldenhafte Figuren und vorbildlich aufklärende Inschriften machten den Aufenthalt zu einem Höhepunkt unserer antikolonialistischen und patriotischen Studien. Dass ein sozialistisches Land regelmäßig die Erfolge der eigenen Feudalherren gegen andere Feudalherren feiert, könnte europäische Linke erstaunen. Anscheinend haben chinesische Kommunisten ganz spezielle Vorstellungen von Klasse und Macht.

Tulou bei Xiamen von innen
Tulous sind riesige, von einem Klan bewohnte Rundbauten. Eine Familie lebt jeweils in einem senkrechten Abschnitt.

Tulous: Häuser aus Lehm, Zucker und Reis

Eine andere Touristenattraktion in der Nähe von Xiamen sind die Tulous. Wobei „Nähe“ eher großzügig zu sehen ist: Das Auto brauchte 2,5 Stunden bis zum ersten dieser Rundhäuser. Gebaut wurden sie von den Hakka, die vor rund 1000 Jahren aus Nordchina hierher flüchteten, und zwar vor einer bösen Königin, wie unser Führer erläuterte. Jedes der Häuser beherbergte einen Klan, heute wohnen noch zwischen 80 und 130 Leute in je einem Gebäude. Die Jungen ziehen weg, denn auf dem Land gibt es nicht nur kaum Arbeitsplätze, sondern auch sonst wenig Reizvolles. Die Alten bleiben und bekommen von den Eintrittsgeldern etwas ab.

Satellitenschüsseln im Tulou Die Bauten beeindrucken wirklich, aber ein Tagesausflug reicht dafür. Konstruiert sind sie aus Holz und Lehm, der mit Klebreis und Zucker verstärkt ist. Angeblich haben einige Leute bei einer längeren Belagerung Teile der Wände gegessen, aber das dürfte eine staubige, wenig nahrhafte Angelegenheit gewesen sein. Jede Familie bewohnt einen senkrechten Abschnitt des Kreises, hat also reichlich Treppengänge zu erledigen. Ganz oben leben die Eltern, darunter die Kinder, dann kommen Wohn- und Lagerräume. Im Erdgeschoss liegen die Küchen. Wenn die Kinder groß und die Eltern alt werden, tauschen sie die beiden oberen Etagen. Statt Toiletten gab es Eimer, was man auch heute noch an manchen Stellen riecht. Inzwischen ist fließendes Wasser verfügbar, zumindest im Hof, ebenso wie Strom und Satellitenfernsehen.

Tulou Cluster von oben
Die Gebäude dieses Tulou-Cluster sind nur wenig über 100 Jahre alt und sollen Wasser, Erde, Feuer, Luft und Metall darstellen.

Zu sehen bekamen wir das älteste (900 Jahre), das größte und das jüngste (130 Jahre) Tulou. Letzteres ist ein ganzer Komplex („Cluster”) von fünf Gebäuden, die für die Elemente Wasser, Luft, Erde, Feuer und Metall stehen. Außerdem liegen noch zwei rechteckige Gebäude daneben, die Essstäbchen darstellen sollen. Der Zusammenhang zu den Elementen ist unklar, aber ein bisschen Symbolik schadet ja nicht. Dieser Cluster umfasst die am besten erhaltenen der insgesamt 30.000 Tulou, und er beherbergt sogar ein Hotel. Wir trafen dort ein amerikanisches Ehepaar, das eine Tour samt Übernachtung gebucht hatte – sie kam zwar aus Jamaika, aber ihre Vorfahren waren wohl Hakka. Die Sprache sprach aber auch sie nicht mehr so recht.

Rote Blüten mit rosafarbenen Knospen, Botanischer Garten Xiamen
Eine der wenigen blühenden Pflanzen im Botanischen Garten von Xiamen.

Erholung von Xiamen im Grünen

In Xiamen schafften wir es noch in den Botanischen Garten, immer die Fußgängerzone entlang, vorbei an der Moschee und dem Denkmal für die Märtyrer der Revolution. Schöner wäre vermutlich der Weg auf der ehemaligen Eisenbahntrasse gewesen. Aber wie so vieles in der Stadt entdeckten wir ihn nur zufällig. Der Garten ist ein riesiger Park mit thematischen Schwerpunkten wie Palmen, Rosen, Kamelien, Kakteen und „eigenartigen” Pflanzen. Er liegt sehr schön über mehrere Hügel verteilt und ist von zahlreichen kleinen Wegen durchzogen, auf denen man sich plötzlich ganz alleine wiederfindet – selten in diesem Land. Zwischendurch trifft man immer wieder auf Teiche und mit gemeißelten Gedichten versehene Felsen. Allerdings sollten auswärtige Besucher unbedingt genug zu trinken mitnehmen. Zwar stehen überall Getränkeautomaten, aber an denen kann man nur mit dem chinesischen Handy bezahlen.

Mädchen vor Baum, Ölgemälde Erfolglos blieb in Xiamen unsere Suche nach einem Kunstmuseum. Es soll sowas geben, wahlweise „Art Museum” und „Museum of the Chinese Elite” genannt. Google verzeichnet es auf seiner Karte, MapsMe kennt es nicht. Gefunden haben wir das Gebäude schließlich, es beherbergte aber nur Restaurants sowie eine Galerie mit Gemälden und Objekten, die einen sehr speziellen Geschmack bedienen. Unseren nicht. Aber falls jemand ein in Granit genageltes Portrait von Xi Jinping (auch samt Gattin, kostet aber mehr) sucht: Hier wird er für 1100 Euro fündig.

Xi Jinping in Stein
Staats- und Parteichef Xi Jinping auf das Naturgetreueste und Künstlerischste in Granit gedengelt.

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