Klassizistisches haus in plovdiv nachts

Auf dem Strich gehen in Plovdiv

18.10.2015

Wer etwas von „Kopfsteinpflaster“ in der Altstadt von Plovdiv liest, sollte nicht an die nahezu ebenen Katzenköpfe deutscher Städte denken. In der zweitgrößten bulgarischen Stadt hat man schon vor langer Zeit kleine Felsen verlegt, die enorm verkehrsberuhigend wirken. Allerdings nicht nur auf Autos und Mopeds, sondern sie bremsen auch Fußgänger aus. Mit Highheels begibt sich eine Plovdiverin nüchtern nicht auf diese Buckelpiste. Und auch mit flachen Schuhen sollte man immer versuchen, in der Mitte der Straße zu gehen. Denn dort liegen zwei relativ ebene Steine relativ eben nebeneinander und bilden so einen Streifen, den man leidlich normal benutzen kann – bis jemand entgegenkommt. Bürgersteige gibt es pro forma auch, aber deren Anlage gehört nicht zu den lokalen Kernkompetenzen. Auch nicht im Rest der Stadt, wo die Straßen asphaltiert sind.

Kopfstein-Pflaster in Plovdivs Altstadt, Detail Schiefer Kanaldeckel in Straße mit Kopfstein-Pflaster, Plovdiv/Altstadt
Das Pflaster ist eine Art Markenzeichen der Plovdiver Altstadt. Prima Training für die Waden

Macht aber allet nüscht, denn in Plovdivs Altstadt will man ohnehin nicht schnell vorankommen. Dafür gibt es zu viel zu sehen. Gefühlt jedes zweite Haus ist ein Museum mit integrierter Kunstgalerie. Dazwischen liegen die Nur-Häuser und -Museen. Zumindest was die Zahl der Sehenswürdigkeiten angeht, dürfte die Stadt sogar Malaka in Malaysia schlagen – das hat allerdings ein Museum der Jugend und für „enduring beauty“ zu bieten.

Kaufleute steckten ihre Gewinne ins Wohnzimmer

In Plovdivs Museen geht es fast nur um die bulgarische Renaissance nach dem Ende der mehrere Jahrhunderte dauernden Besetzung durch die Türken. Währenddessen waren prunkvolle Häuser eine der wenigen Möglichkeiten, wie bulgarische Händler ihr Geld ausgeben konnten. So entstand ein ganz eigener Typus, das symmetrische Plovdiv-Haus. Riesige Eingangshalle im Erdgeschoss, von dort eine zweiteilige geschwungene Treppe in die erste Etage und noch ein Treppchen von dort in ein sinnloses Halbgeschoss, das nur aus einem kleinen Erker besteht. Die Wände innen und außen mit Säulen bemalt, innen außerdem mit Gemälden und geschnitzten Holzdecken verziert. Ausgestattet sind die Häuser entweder mit Gemälden mehr oder weniger guter Künstler oder mit Möbeln vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. So ist es auch im fünften Gebäude trotz Symmetrie und viel Wiederholung nicht langweilig.

Bürgerhaus in Plovdiv von außen
Arbeitszimmer in einem Bürgerhaus in der Altstadt von Plovdiv
Bürgerhäuser außen und innen aufgehübscht.

An Verstorbene muss man immer wieder erinnern

Eine bulgarische Besonderheit fiel uns zuerst in der Altstadt auf, aber das Phänomen ist überall anzutreffen. Es handelt sich um ein eigenartiges Festhalten an Verstorbenen. Direkt nach dem Tod klebt man ein A4-Blatt mit Bild und Namen des Toten an einen Baum oder eine Tür (oder sonstwo hin). Soweit, so eigen. Vielleicht schicken Bulgaren keine Karten oder schalten keine Anzeigen. Aber 40 Tage nach dem Ableben kommt wieder ein Zettel mit Bild und Namen. Und sechs Monate später wieder. Und nach einem Jahr. Wir haben diese Erinnerungshilfen gesehen für Leute, die schon 18 Jahre unter der Erde waren. Und das ist nicht beschränkt auf ehemals orthodoxe Leichen, auch Armenier pflegen den morbiden Kult. Geburts- und Hochzeitsanzeigen hängen hingegen nie an Bäumen oder anderswo, obwohl hier eher mehr geboren und geheiratet als gestorben wird.

Öffentliche Anzeige zur Erinnerung an den Tod einer Frau vor 40 Tagen. Plovdiv Öffentliche Anzeige an den Tod einer Frau vor einem Jahr. Plovdiv
Die morbide Erinnerungskultur…

Öffentliche Todesanzeigen in Bulgarisch und Armenisch,
Plovdiv
… beschränkt sich nicht auf vormals orthodoxe Leichen.

Im Zentrum steht gegrilltes Fleisch

Leichter zu verstehen als die Faszination mit Leichen ist die Abwesenheit bulgarischen Essens außerhalb von Bulgarien. Das liegt zum einen am Essen selbst. Das ist nicht schlecht, aber arg simpel. Im Wesentlichen dreht sich alles um Grillfleisch, Gemüse existiert vorzugsweise als Kartoffel, Paprika oder Brokkoli. Aber bitte nicht auf demselben Teller wie das Fleisch. Wer eine Beilage haben möchte, muss die extra bestellen, sozusagen à l’italienne. Wäre ok, wenn nicht, und das ist der zweite Grund für die lokale Begrenztheit, das Essen in 300g-Portionen käme. Und zwar mindestens und jede Komponente. Also 300g Grillfleisch (600g geht auch) und 300g Brokkoli und 300g Kartoffeln. Vorher zwischen 300 und 500g Suppe, und der Nachtisch muss auch mindestens 200g wiegen. Nein, wir fahren nicht mit einer Waage in Urlaub, die Speisekarten sind hier so genau. Die Einheimischen kriegen diese Mengen irgendwie verdrückt, ohne dass sie alle fett wären. Aber sie üben auch von klein auf.

Teller mit einer Bratwurst und drei Kartoffelscheibchen.
Bulgarien
Wer in Bulgarien eine Wurst bestellt, bekommt genau das. Manchmal sogar liebevoll dekoriert.

Auswärtige Besucher irritiert eine weitere Besonderheit der bulgarischen Küche: die Planlosigkeit. Wenn zwei Leute an einem Tisch eine Vorspeise, zwei Hauptgerichte und eine Beilage bestellen, kommen diese Gerichte keineswegs in der erwarteten Reihenfolge. Sondern etwa Vorspeise und Beilage kurz hintereinander. Dann nach einer Pause das erste Hauptgericht. Und wenn das fast aufgegessen ist, bekommt auch der zweite Gast seines, zu dem die Beilage gehört hätte. Bis jetzt hat noch kein Laden, egal ob Imbiss oder teuer, beide Hauptgerichte gleichzeitig oder auch nur kurz hintereinander geliefert. Ob das eine Art asiatisches Erbe ist oder einfach nur Unfähigkeit? Nachdem wir heute mehreren Pizze beim Abkühlen auf dem Tresen zuschauen durften, weil sich niemand für den Transport zum Gast zuständig fühlte, plädieren wir für letzteres.

Zwischen sozialistischer Post und römischem Theater

Außerhalb der Altstadt ist Plovdiv eine ziemlich normale moderne Stadt. Wer noch etwas von der abgeschlossenen Bauepoche „Sozialismus“ sehen möchte, muss nicht in die graue Vorstadt fahren, sondern einfach nur zum großen Platz in der Innenstadt spazieren. Den beherrscht das mittlerweile fast funktionslose Postamt. Draußen monumental-klotzig, drinnen düster und leer. Das Ensemble ist ein Stein gewordener feuchter Traum sozialistischer Stadtplanung. Ansprechender wirken die Reste älterer Zeiten, etwa das römische Stadion, das mal 60.000 Zuschauer fasste – sein Halbrund steht jetzt mitten in der Fußgängerzone, wo es gut hinpasst. Der Rest des Gebäudes liegt unter Pflaster und Geschäften versteckt und wird dort wohl auch bleiben. Weiter oben am Hang liegt das erst vor wenigen Jahren entdeckte römische Amphitheater, das wieder regelmäßig für Aufführungen genutzt wird.

Hauptpostamt in Plovdiv aus sozialistischer
Zeit
Im Sozialismus war die Post noch sehr wichtig und bekam prächtige Gebäude gebaut.
Römisches Amphitheater in
Plovdiv
Vom römischen Amphitheater in Plovdiv sieht man auch die weniger schönen Teile der Stadt.

Es gibt Busse mit klar erkennbaren Haltestellen, an denen ein Liniennetz klebt. Das ist zwar kyrillisch beschriftet, aber immer noch besser als gar kein Plan. Tickets kauft man im Bus bei Schaffner oder Schaffnerin für 50 Cent pro Fahrt. Niedrige Löhne, niedrige Preise, kein Grund zur Automatisierung. So fanden wir hier relativ schnell zum nördlichen Busbahnhof und bekamen dort unsere Tickets für die Weiterfahrt in die ehemalige Hauptstadt Veliko Tarnovo.

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