Sonnenuntergang hinter der burg von kusadasi

Kuşadası, Schrankwandparadies an der Ägäis

2.10.2015

Luftlinie 1,5 Kilometer von Samos, mit dem Schiff aber knapp zwei Stunden: das türkische Kuşadası bildet einen krassen Gegensatz zu der griechischen Insel. Mehr als 600.000 Besucher sollen sich hier in der Hauptsaison aufhalten, zusätzlich zu den 100.000 Einwohnern. Jetzt ist zwar Nebensaison, aber trotzdem genug los.In der Fußgängerzone reihen sich Restaurants an Teppichläden an Geschäfte mit „genuine fake watches“ an Kebab-Buden an Juweliere an Bars an Schuhläden an Shops mit „Adidas“- und „Nike“-T-Shirts. Alles wenig nervig, man liegt Wert auf „no hassle“ – also mögliche Kunden nicht durch zu aufdringliches Anquatschen zu verärgern.

Laden mit „Genuine Fake Watches“ in der Fußgängerzone von Kuşadası
Niemand in Kuşadası behauptet, die Uhren seien echt.

Große Hotels sind im Stadtkern nicht zu sehen. Die Masse der Touristen, leicht erkennbar an ihren bunten Plastikarmbändchen, übernachtet auf dem Wasser in einer der schwimmenden Schrankwände, die jeden Morgen im Hafen eintrudeln und abends wieder abdampfen. Gesehen haben wir schon „Celebrity Cruises“ (mit überaus wohlgenährten Kreti & Plethi als Kunden), irgendwas norwegisches mit klassizistisch verziertem Heck – gerade singt übrigens der Muezzin ausnahmsweise mal sehr gut und unblechern – und eine „Peace Cruise“, die irgendwie 2015 die Armut abschaffen möchte. Man muss nicht alles verstehen.

Zwei Kreuzfahrtschiffe im Hafen von Kuşadası, das kleinere
ein „Peace Boat“
Jeder Tag bringt eine neue Schrankwand in den Hafen von Kuşadası, die so aussieht wie die davor.

Hilflose Kreuzfahrer in Ephesus

In Kuşadası sieht man diese Reisebehinderten kaum, weil sie die Ruinen des nahe gelegenen Ephesus (Türkisch Efes) überfluten. Im Sommer dürfte es zwischen Amphitheater und Nymphaeum ähnlich voll sein wie auf dem Oktoberfest. Jetzt können es auch Platzängstler ertragen, und man lernt ununterbrochen dazu. Denn die in 25er-Päckchen zerlegten Kreuzfahrergruppen erhalten prima Führungen, denen man unauffällig lauschen kann – Englisch dominiert. Dabei ist nicht nur zu erfahren, wie Äskulaps Schlange zu ihrer Schale kam, sondern auch, dass die Cruise-Versicherung nicht für Unfälle auf Ephesus-Treppen aufkommt. Weshalb ein Besuch des riesigen Amphitheaters für ängstliche ältere Amis ausfällt.

Tourguide und Touristen vor Ruinen in
Ephesus/Kuşadası
Kreuzfahrer kommen in handlichen Paketen nach Ephesus, erkennbar an ihrer Nummer.

Auch vor dem Betreten der 2000 Jahre alten Straße zwischen den beiden Stadttoren gibt es eine Ermahnung: It is very dangerous. Stimmt natürlich für Leute, die sich nicht mehr erinnern können, wozu Beine und Füße gut sind, weil sie auch zum Hausbriefkasten mit dem Auto fahren. Während der vier Stunden, die wir zwischen den Trümmern rumstapften, kam es jedenfalls zu keinen Rettungseinsätzen. Vermutlich auch, weil die Gegend spirituell hoch aufgeladen ist. Jesus’ Mamma hat dort ihre letzten Jahre verbracht, Paulus die Ephesuser missioniert (die verscheuchten ihn aber), Jesus wurde hier vom 3. Ökumenischen Konzil zum Sohn Gottes erklärt. 400 und ein bisschen war das; wieso es da schon eine Ökumene gab – schleierhaft. Noch früher betätigten sich auf demselben Gelände Artemis, Äskulap, Priapos (anatomisch immer sehr ambitioniert), Nike/Viktoria und bestimmt noch viele andere.

Skulptur der Göttin Artemis mit unzähligen Brüsten. Museum von Ephesus/Kuşadası
Artemis kümmerte sich in Ephesus um die Fruchtbarkeit.

Aus zweitausend Jahre alten Trümmern Häuser basteln

Bei aller Ironie: Was die Leute mit wenig Technik schon vor zweitausend Jahren gebaut haben, beeindruckt. Ein Theater für 25.000 Besucher, das noch fast komplett erhalten ist, Wohnhäuser mit Wandmalereien und Mosaiken, öffentliche Bäder und Sportanlagen. Wobei „erhalten“ nicht unbedingt wörtlich zu nehmen ist. Österreichische und deutsche Archäologen sind seit gut hundert Jahren mit türkischen Kollegen dabei, die Trümmer wieder zusammenzupuzzeln. Manchmal kommen dadurch komplette Gebäude heraus, manchmal vereinfachte Varianten, und an vielen Stellen thematisch sortierte Marmorbrocken: Säulen links, Kapitelle rechts und Dachfriese in der Mitte.

Sortierte, liegende Säulenfragmente in Milet Sortierte Säulenabschnitte in Milet
Was in Milet noch nicht zusammengepuzzelt ist, liegt mehr oder weniger ordentlich rum. Aus den Zahnrädern könnte man wieder Säulen bauen.

In der anderen Richtung von Kuşadası liegen Milet, Priene und Didyma – auch alt, auch griechisch-römisch, aber längst nicht so überlaufen. Man kann also ungenervt in Ruhe durch die Ruinen schlendern, von denen es fast dieselbe Auswahl wie in Ephesus gibt. Nur mit den Wohnhäusern sieht es schlecht aus: Die wurden von Erdbeben ziemlich gründlich zerlegt. Theater, Rathaus und die zentrale Straße haben das Gewackel aber gut überstanden. Manche Gebäude sind auch schon vor zweitausend Jahren nicht fertig geworden, auch da hat sich also nichts grundlegend geändert.

Panoramablick ins Amphitheater von Priene/Kuşadas
Das Amphitheater von Priene war für 6.000 Leute ausgelegt.

Wie in anderen Teilen der Türkei hat Erdoğan auch hier heftig modernisiert, unter anderem neue Straßen gebaut. So fährt man auf vierspurigen Autobahnen herum, die fast so leer sind wie die Umgebung. Und nicht wirklich Autobahnen: Trecker tuckern auf der rechten Spur, gelegentlich kommt ein Auto auf dem Standstreifen entgegen und Ampeln bremsen den Verkehr. Nicht nur auf der Straße kollidieren Tradition und Moderne hier häufig. In Kuşadası stehen verfallene Bruchbuden neben schick renovierten Konaks, ultrakurz berockte Mädels gehen mit ihren Kopftuch-Freundinnen im züchtigen knöchellangen Kleid spazieren und direkt neben dem Handy-Shop rasiert der „Berber“ noch von Hand. Wir bekamen lustigerweise immer wieder Rasierangebote von Frisören mit Dreitagebart.

Hausabriss an der Promenade von
Izmir
Abriss, Neubau an fast jeder Ecke; hier in Izmir

Von hier aus brachte uns der Bus nach Izmir, mit Onboard-Unterhaltung im Vordersitz und Snack/Getränkeservice am Platz. WLAN war angekündigt, aber abwesend – genau wie bei deutschen Fernbussen .

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