Erschrockenes gesicht

Lebendiges, säkulares, leicht verpeiltes Izmir

6.10.2015

Ein Zehntel mehr Einwohner als Berlin, aber fast zehnmal so groß: Übermäßig kompakt ist Izmir nicht. Fast überall im Zentrum stehen niedrige Häuser, sodass die paar Wolkenkratzer besonders herausstechen. Herausstechen müssten eigentlich auch Minarette, und erst nach einiger Zeit fällt auf, dass kaum welche zu sehen sind. Folglich hört man auch fast nie „Allah hu akbar“-Gesänge, was auch mal ganz schön ist. Abends im Restaurant erklärten sich sogar alle vier Herren vom Nebentisch zu „non-believers“. Trotzdem haben wir ihre Fragen zu Familienstand und Freundin eher ausweichend beantwortet – nicht bei jedem Thema ist Weltoffenheit zu vermuten.

Blick auf Izmir und die Bucht vom Stadtteil Asansör aus
Izmir liegt zumindest zum Teil an einer großen Bucht, hier vom Stadtteil Asansör aus.

Obwohl nur wenige Mullahs singen, ist Izmir keine ruhige Stadt. Wir hatten den Eindruck, dass es sogar mehr Verkehr gibt als in Istanbul, vor allem stehenden und hupenden. Was vielleicht auch daran liegt, dass der ÖPNV hier weniger gut ausgebaut ist. Es gibt keine Straßenbahn, nur eine U-Bahn-Linie und zig Buslinien. Benutzen könnte man die mit einer wiederaufladbaren „KentKart“, wenn es die denn zu kaufen gäbe. Wir haben an Bahnhöfen und Kiosken gefragt, und immer hieß es „KentKart yok“ – ham wa nich. Wer eine besitzt, kann sie allerdings problemlos an Automaten und Kiosken aufladen lassen.

Ohne die geheimnisvolle Karte bleiben nur Sammeltickets, auch die elektronisch, aber nicht aufladbar. Nicht erhältlich an Automaten, nur an manchen Kiosken und ausgewählten Bahnhöfen zum Beispiel zwischen 16:30 und 20 Uhr. So eine Karte darf man auch zu zweit benutzen und sich die Fahrten teilen. Was allerdings nur halb so praktisch ist, wie es klingt. Denn die Dinger werden nur mit 2, 3 oder 5 Fahrten ausgegeben. Vier ist vermutlich eine irgendwie böse Zahl, so wie im restlichen Asien? Der Versuch, zwei Karten mit je zwei Fahrten zu kaufen, ging jedenfalls in die Hose: Wir bekamen einfach nur eine. Klar, zwei mal zwei wäre vier, also böse. Umsteigen ist mit diesen Tickets unmöglich, für jede Fahrt wird eine neue Entwertung fällig. Anders als bei der KentKart, vermutlich gibt es die deshalb nicht mehr zu kaufen.

Zwei unfertige Hochstraßen-Stummel am Hafen von Izmir
Da wollte mal jemand eine richtig schöne Hochstraße am Ufer bauen.

Wir fuhren fast nur Bahn, da gab es wenigstens ein Liniennetz. Das Bussystem funktioniert nach Regeln, die jede Generation auf dem Sterbebett an die nächste weitergibt. An einer einzigen Haltestelle standen die dort haltenden Linien, einen Netzplan haben wir nirgendwo gesehen. Dafür gibt es zwei Apps, eine private und eine von der Stadt, die unterschiedliche Informationen liefern. Die städtische aber am liebsten gar keine. Unterwegs helfen die mangels Internet ohnehin nicht. Da sehnt man sich geradezu Saigon und Hanoi zurück.

Verpeilt zeigt sich Izmir auch beim Tourismus. Es gibt zwar ein Informationsbüro, das hat aber praktisch keine Informationen (dafür aber sehr, sehr viel Platz). Man verteilt dort einen minder hilfreichen, weil veralteten Stadtplan und bewirbt die KentKart. Öffnungszeiten der Museen? „Ab 9“. Broschüre über Sehenswürdigkeiten, Restaurants etc? Och nö. Die hatte es immerhin mal auf der Berliner Tourismusmesse gegeben. Mit Öffnungszeiten, aber ohne Adressen, was wenig hilft. Oder doch, weil wir dadurch immer mal wieder fragen mussten. So brachte uns ein Wachmann auf Französisch in Richtung ethnologisches Museum (muss man nicht hin). Da hatten er und wir ein bisschen Spaß.

Abriss in einem alten Wohnviertel von Izmir
Direkt beim fast geheim gehaltenen Archäologischen Museum wird heftig abgerissen.
Betonblock für Wohnen, Büros und Fastfood in der Nähe des lokalen Busbahnhofs von Izmir
Nicht weit davon eine Betonorgie: oben Wohnungen und Büros, unten Shopping und dazwischen Quasi-Höfe mit Fast Food.

Auf dem Weg dorthin stolperten wir über die städtische (!) Kunstgalerie. Das war ein lohnender Umweg, weil dort gerade eine ältere Dame ausstellte, und zwar sehr wenig traditionelle Bilder. In der ersten Etage folgte das Gegenbeispiel: auch ältere Dame, aber Werke vom Kaliber Heimvolkshochschule. Diese Ausstellungen dauern jeweils zwei Wochen und finden nahezu ununterbrochen statt. Städtische Kunstgalerien mit demselben Konzept gibt es auch in anderen Städten, in Deutschland habe ich derlei noch nicht gesehen. Wäre doch eine gute Möglichkeit, Hobby-Künstler einem größeren Publikum zu präsentieren.

Auch im zentralen Kültür Parkı von Izmir fanden wir so eine Galerie, diesmal mit der Fotoausstellung eines Architekten. Der ältere Herr freute sich fast ein Loch in den Bauch, weil mal jemand vorbeikam. Werbung machen diese städtischen Galerien nämlich nicht oder völlig spurenlos. Der Park jedenfalls ist riesig und liegt dort, wo sich früher das griechische Wohngebiet von Izmir befand. Bis Anfang der 20er-Jahre hieß die Stadt Smyrna und gehörte zu Griechenland. Das wollte der jungen Türkei noch ein bisschen Land abnehmen, was gründlich misslang. Folge war die erste vertraglich geregelte ethnischen Säuberung: Ein paar hunderttausend Griechen und Türken wurden dabei zwangsumgesiedelt. Den Brand von Smyrna unter den Augen britischer Beobachter und die Vertreibung der Griechen schildert Eugenides am Anfang von „Middlesex“ sehr eindrücklich.

Riesenrad im Kültür Parkı von IzmirIm Kültür Parkı gibt es einen großen Rummel… Werbung für eine Ausstellung von Zeki Müren in Izmir…und gerade eine Ausstellung über die türkische Antwort auf Liberace: Zeki Müren. Eine der größten Tunten aller Zeiten, besang die Türkei bis Mitte der 80er.

Wenn es keinen anderen Grund gäbe, nach Izmir zu fahren, das Essen wäre einer. Wie so oft in der Türkei. Wir landeten in einem wunderbaren Fischrestaurant ohne Speisekarte und Aufreißer. Außer dem Bärchen hinter der Vorspeisentheke sprach niemand Englisch, folglich bestand das Publikum nur aus Türken (und uns). Wir futterten uns dort durch einen Berg an Meze und einen Fisch, am zweiten Tag ließen wir das Tier weg und probierten noch ein paar mehr von den Vorspeisen. Ach. Was man alles mit Auberginen anstellen kann, mit Feta, mit Octopus. Und wenn das dann alles unter Mühen verputzt ist, kommt noch ein Obstteller als „Gruß aus der Küche“. Man möchte nicht aufhören mit dem Spachteln und dem Loben. Falls jemand dahin möchte: Sokak 1447, die geht ab von der Kıbrıs Şehitleri Caddesi, jene wiederum vom Talatpaşa Bulvarı. Der Laden heißt „Meyhane Battı“.

Fischrestaurant Meyhane Battı im Stadtteil Alsancak/Izmir
Unser liebstes Restaurant in Izmir. Meze, Fisch, Atmosphäre – alles prima

Während man da so sitzt und futtert, zieht eine kleine Karawane von Straßenhändlern an den Tischen vorbei. Sie bieten unter anderem an: Kronen aus Blech, gekühlte Mandeln, Luftballons, Rosen, Kugelschreiber, Fotos machen lassen, frische (hoffentlich) Muscheln, Kaninchen, Tempotaschentücher. An beiden Abenden wollte auch ein Geiger seine Dienste vermarkten. Zum Glück offerierte er den möglichen Kunden immer ein klitzekleines Beispiel eines Könnens, weshalb es nie zu einem längeren Auftritt kam. Rosen und Fotos werden übrigens nur an gemischt-geschlechtlich besetzten Tischen angeboten.

Nächtlicher Hutverkäufer im Stadtteil Alsancak/Izmir
Wir hätten zum Essen abends in Izmir merkwürdige Hüte kaufen können. Oder blecherne Kronen. Oder Tempos.

Nach Izmir kamen die viel kleineren Orte Ayvalık und Çanakkale. Davon später, wenn es wieder Netz gibt.

Flüchtlinge warten in Izmir auf den nächsten Bus
Sie sind auch auf dem Weg nach Norden.

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