Blick vom place bellecour zur basilika

Canuts und ihre Schiffchen auf Lyons Rotem Kreuz

6.10.2021

Dreizehn Minuten sind zu wenig. Jedenfalls wenn man in Frankfurt vom ICE aus Berlin in den TGV nach Marseille umsteigen muss. Erst recht, wenn sich zwischen Fulda und Frankfurt Menschen auf den Gleisen tummeln und der ICE dadurch eine halbe Stunde Verspätung einfährt.

Direkter Weg nach Lyon Gefahrene Strecke nach Lyon
Theorie und Wirklichkeit: von Frankfurt nach Lyon

Niemand kann etwas dafür (außer den Spaziergängern, versteht sich), und alle sind überaus verständnisvoll. Besonders der sehr schwule DB-Schaffner: „Das passiert dauernd mit dieser Verbindung, und der TGV wartet nie.” So fuhren fast zehn Leute dann brav weiter nach Mannheim, enterten dort einen ICE nach Offenburg (mit funktionierendem Speisewagen, Jehova), wo die Straßenbahn nach Straßburg netterweise wartete. Auf der französischen Seite dann der erste TGV Richtung Nantes, Umstieg in den zweiten in Marne-la-Vallée, das man nicht kennen will. Mit nur knapp zwei Stunden Verspätung landeten wir doch noch wie geplant in Lyon und bekamen sogar spätabends noch lecker was zu Essen.

Von außen sieht der TGV toll aus

An die Bahn-Nörgelnden: ja, der TGV ist pünktlicher als die ICEs. Allerdings steht er auch auf jedem Bahnhof mindestens zehn Minuten rum, sieht innen aus wie eine Kreuzung aus angegammeltem Interregio und chinesischer Staatsbahn vor fünfzehn Jahren, rumpelt und rüttelt sich über die Strecke und lockt die Fahrgäste in ein Bistro, nach dessen Besuch man am liebsten nie wieder französisch essen würde. TGV-Bahnhöfe stehen gerne mal irgendwo auf der Wiese, beispielsweise „Lorraine“ mitten zwischen Metz und Nancy oder „Vendôme“ zig Kilometer außerhalb der gleichnamigen Stadt oder eben Marne-la-Vallée irgendwo im Nirgendwo.

Die App der hiesigen SNCF ist ein schlechter Witz (kein Ticket-Kauf möglich, keine Echtzeitdaten, kein Regionalverkehr, keine Wagenreihung, keine Abfahrtstafeln für Bahnhöfe). Das kann sogar die Website der rumänischen Bahn besser. Ähnlicher Mist sind die Anzeigen auf den Bahnhöfen, die weder die Position des Bistros noch der einzelnen Wagenklassen verraten. Und: Reservierungspflicht für den TGV, aber keine Anzeige reservierter Plätze im Zug. Sehr hübsch, wenn man wie wir eben keine Reservierung hat und einen freien Platz sucht. Aber auch die SNCFler:innen waren freundlich und hilfsbereit, vor allem, wenn sie nicht Englisch reden mussten. Ach ja: „Lieber Sänk ju vor trävelling wis Doitsche Bahn“ als gar keine Durchsagen auf Englisch wie im TGV von Straßburg nach Nantes.

Die Saône in Lyon mit der Halbinsel
Confluence links
In Lyon fließen die Saône (hier) und die Rhône zusammen. Das linke Ufer gehört zur Halbinsel Confluence.

Lyon hat sich um die Flüsse Rhône und Saône herumgruppiert, die hier zusammenfließen. Die Halbinsel mit dem Stadtzentrum heißt denn auch passenderweise Confluence. Auf der anderen Seite der Saône liegt die Altstadt mit dem größten original erhaltenen Renaissance-Ensemble westlich des Ural. Oder so ähnlich. Jedenfalls müssen da alle hin, und es gibt nichts zu sehen außer Läden mit Schnickedöns und Cafés, die für einen stinknormalen Café au lait fünf Euro verlangen. Das scheint etwas überbewertet.

Interessanter und lebendiger ist das steile Stadtviertel Croix rousse (Rotes Kreuz), das nichts mit der gleichnamigen Organisation zu tun hat. Vielmehr kommt der Name von einem Kreuz, das nach 1512 auf dem Hügel aus rötlichen Steinen errichtet wurde.

Vom Beten zum Arbeiten auf dem Hügel

Außerdem baute man dort Klöster und Kirchen, was dem Gebiet den Beinamen „Der Hügel, der betet“ einbrachte. Damit war nach der französischen Revolution Schluss, und Anfang des 19. Jahrhunderts siedelten sich auf dem Hügel Seidenweber an – der Name änderte sich zu „Der Hügel, der arbeitet“. Der ganze Stadtteil entwickelte sich zum Zentrum der französischen Seidenweberei, was man heute noch an den großen Fenstern und hohen Decken der Häuser erkennt: Die Weber brauchten viel Licht und ihre Maschinen viel Platz nach oben. In Lyon bekamen sie zudem ein eigenes Wort spendiert, man nennt sie hier „Canuts“.

Ein Seidendrucker trägt Farbe auf Einige Seidendruckereien gibt es noch in Lyon, dort können Besucher mit etwas Glück beim Drucken zugucken. Die Technik ähnelt dem Siebdruck: Für jede Farbe gibt es eine Art Matrize, die an den gewünschten Stellen durchlässig ist. Der Drucker (wir sahen nur Männer) trägt die Farbe auf und verteilt sie mit einem Gummiwischer.

In zwei ehemaligen Webereien betreibt die Stiftung „Lebendige Seidenindustrie“ Museen. Zweimal täglich finden dort Führungen statt, man muss also ein bisschen planen. Die eine Fachfrau spricht jedoch ausschließlich Französisch, sodass die Tour leider nicht für alle geeignet ist. Immerhin stehen in Werkstatt No 1, der „Maison de canuts“, gleich drei Jacquard-Webstühle, von denen einer noch manuell bedient wird. Die anderen beiden laufen bereits mit Strom und produzieren viel mehr Lärm als das ältere Modell.

Elektrisch betriebener Jacquard-Webstuhl in Aktion
Bei dem elektrisch betriebenen Jacquard-Webstuhl fliegt gerade das Schiffchen.

Monsieur Jacquard erhielt 1805 ein Patent für sein Verfahren, Kettfäden beim Weben durch ein auf Lochkarten gespeichertes Programm anzuheben. Bis dahin mussten die Fäden vor jedem „Schuss“ des Schiffchens von Hand angehoben werden. Jacquards Mechanismus erlaubte es, zunächst Gruppen von Kettfäden koordiniert mit der Bewegung des Schiffchens anzuheben. Das erhöhte die Produktivität. Später entstand ein Verfahren, mit dem sich jeder einzelne Kettfaden separat anheben ließ. Dadurch konnte man wesentlich komplizierte Muster erstellen, bis hin zu gewebten Bildern, die aussehen wie Stiche.

Arbeiten vorne, Wohnen hinten

Wie in Schlesien revoltierten die Weber auch auf dem Roten Kreuz, vor allem wegen der Bezahlung: Geld bekamen sie nämlich nicht pro Stunde, sondern für die gelieferte Menge. Je nach zu webendem Muster stellten sie folglich mehr oder weniger Stoff pro Stunde her, sodass die Weber kein festes, kalkulierbares Einkommen hatten.

Ein Posamenten-Webstuhl im Betrieb Zu den Hochzeiten des Handwerks standen in Lyon 50.000 Webstühle, zum größten Teil betrieben von einzelnen Familien, die in Nebenräumen der Werkstatt lebten. Meistens betrieben Väter und Söhne die Maschinen. Das eine der beiden Museen jedoch geht zurück auf eine Weberin: Ihre beiden Brüder waren schon Anfang des Ersten Weltkriegs ums Leben gekommen, sodass sie die väterliche Firma übernahm und bis weit in ihre 80er-Jahre dort zwei Webstühle betrieb.

Damit stellte sie keine üblichen Stoffe her, sondern „Posamenten“, also Bänder, Litzen und so weiter – alles, was man für Uniformen und Kirchenkleidung brauchte. Die beiden Webstühle sind bis heute in Betrieb und können jeweils 18 Bänder gleichzeitig produzieren. Madame schaffte es mit sogar, den Titel „Französische Bestarbeiterin“ zu gewinnen, dessen Existenz wir in diesem Land gar nicht vermutet hätten.

Die Lyoner:innen nennen das Rote Kreuz einen „Hügel“, und hoch liegt das Stadtviertel wirklich nicht. Allerdings stellenweise so steil wie San Francisco, und anders als dort teilweise nur per Treppe zu erklimmen. Dasselbe gilt für den anderen Hügel der Stadt, auf dem sich nach dem Anfang des 18. Jahrhunderts die katholischen Institution niederließen.

Blick von der Altstadt Lyons zur Basilika Engelsfigur „Sapientia“
Die Basilika Lyons tront auf ihrem Hügel und ist von überall zu sehen. Wer glaubt, dem visuellen Grauen im Inneren der Kirche zu entkommen, stößt auf Werke wie den Engel „Weisheit“.

Ähnlich wie in Warschau den Kulturpalast hat man hier ein Baudenkmal hingeklotzt, das von der ganzen Stadt aus sichtbar ist. Und fast wie im Kulturpalast wäre der schönste Platz in Lyon das Innere der Basilika, weil man sie da nicht sehen müsste. Allerdings ist die Kirche innen wie außen gleich überladen mit pseudo-barocken Engeln und schwülstigen Mosaiken, sodass das Auge auch dort keine Ruhe findet.

Ausschnitt aus einem Mosik in der Basilika von Lyon
Dieses Mosaik in der Basilika von Lyon zeigt möglicherweise einen Höhepunkt der Geschichte von Jeanne d'Arc.

Bekannter ist Lyon aber glücklicherweise als Hauptstadt des guten Geschmacks. Paul Bocuse arbeitete hier, und nach ihm sind eine Markthalle und eine Kochschule benannt. Anders als in Deutschland vermutet, hatte er jedoch nix mit der „Nouvelle Cuisine“ am Hut (meinte Wolfgang Siebeck in „Die Zeit“ 2006). Bocuse sah sich eher in der Tradition der kochenden Lyonerin. Und wenn das heutige Angebot Rückschlüsse auf die Vergangenheit zulässt, dann mochte die es deftig, gehaltvoll und nicht zu knapp.

Ein Pot Rotwein fasst nur 0,46 Liter. Schon nach einer Portion „Rognons à la moutarde“ fällt das Aufstehen nicht mehr ganz leicht, und ein Drei-Gänge-Menü ist nur nach einem Arbeitstag auf dem Feld zu verkraften. Brasserien leben hier noch, und zwar so gut, dass wir manchmal erst für zwei Tage später einen Tisch reservieren konnten. Man serviert Quenelle (Hechtklöße), Tripe (Kutteln), Lyoner Wurst mit warmen Linsen oder kalt als Salat, auch Foie gras findet sich häufig. Das alles, sofern man nicht in der überteuerten Altstadt aufschlägt, zu akzeptablen, gar günstigen Preisen.

Und immer ein Schluck für den Patron

Dazu gibt es einen „Pot“ Wein, was nicht etwa ein Topf ist. Vielmehr schrumpft das im übrigen Frankreich übliche „Pichet“ hier um acht bis 12 Prozent und fasst nur noch 0,23 oder 0,46 Liter. Die Differenz habe sich, so ein Kellner auf Nachfrage, der Chef gesichert. Häufig weist ein dicker Glasboden in der Karaffe ein dicker Glasboden auf das Manko hin.

Interierur einer Brasserie in Lyon
Weil Deutsche früher Essen gehen als Franzosen, können sie leere Restaurants fotografieren.

Wenig geändert hat sich am Interieur der klassischen Restaurants: Die Tischchen stehen dicht an dicht und sind so mickrig, dass man ständig den Absturz von Glas, Teller, Besteck oder Brotkorb fürchten muss. Von Mindestabstand keine Spur, dafür kontrolliert man vor dem Betreten gründlich das Impfzertifikat. Allerdings ohne die Identität zu prüfen, weil das in Frankreich nur die Polizei darf. Nur einige neuere Läden gönnen sich größere Tische oder mehr Abstand dazwischen.

Unabhängig von Tischmaßen und -distanzen sind die Kellner:innen freundlich, geduldig und hilfsbereit. Was Berlinernden überall in der Welt wegen des großen Unterschieds zur Heimat auffällt. „Bonsoir, Monsieur“, „Au revoir, Madame“ – schon dieses angehängte „Mein Herr, meine Dame“ schmiert die Kommunikation und steigert das Wohlbefinden.

Übrigens scheint sich das Verhältnis zum radebrechenden oder des Französischen gar ohnmächtigen Fremden geändert zu haben. Ihm wird nicht mehr Herablassung oder gar Ignorieren zu teil, sondern man bemüht sich um Verständnis und Hilfe. Das haben wir zumindest sowohl in der Bahn als auch in der Gastronomie beobachtet. Man kommt also auch ohne Sprachkenntnisse inzwischen ganz gut zurecht, wie in anderen Teilen der Welt auch.

Bronze nach einer Karikatur von Honoré Daumier Bronze nach einer Karikatur von Honoré Daumier: Le rieur édenté
Im Musée des Beaux Arts in Lyon stehen unter anderem diese kleinen Bronzen nach Karikaturen von Honoré Daumier. Sie zeigen Menschen der „bessern Gesellschaft“, rechts den „zahnlosen Lacher“.

Ähnliche Beiträge