Karlsbad 2012

Durchfall und Hautabschürfung in Karlovy Vary

23.5.2022

Früher kamen sie alle: Karl Marx, Kemal Atatürk, Theodor Fontane, Goethe, Siegmund Freud, Antonin Dvořak, der Graf Thun, König:innen und Tomáš Masaryk, der erste Präsident der Tschechoslowakei. Kein Wunder, dass Karlovy Vary aussieht wie eine Architekturausstellung der Baukunst-Höhepunkten vom Ende des 19. Jahrhunderts. Klassizismus überwiegt, aber es finden sich auch Jugendstil- und Art-Deco-Paläste und barock verschnörkelte Villen. Hauptsache Prunk und Pracht.

Damit allerdings ist es nicht mehr ganz so weit her wie vor zehn Jahren, als wir zuletzt hier waren. Denn die reichen Russen, die damals Promenaden, Fußgängerzonen, Restaurants, Cafés, einfach alles bevölkerten, sind nicht mehr da. Zwar sprechen noch viele Gäste Russisch, aber dabei handelt es sich wohl überwiegend um Ukrainer:innen. Ästhetisch pflegen sie ähnliche Vorlieben wie die ihr Land überfallenden Nachbarn: Trainingshose mit drei Streifen für die Männer, gerne auch mal ne Nummer zu kleine Bling-Bling-Kleidung und Botox für die Frauen. In Karlsbad landen eben nicht die Mütter, die ohne Geld und mit ihren Kindern auf der Flucht sind. Hier parken die Mercedes-SUVs und Porsches mit UA-Kennzeichen.

Blick auf Karlsbad vom Turm
Hotel an Hotel an Hotel: Rechts geht es nach oben zu den wirklich teuren, links hinten führt die Fußgängerzone an den Fluss.

Dass russische Neureiche fehlen, merkt man überall. Geschlossene Hotels, leerstehende Geschäfte, immer ein freier Platz (oder auch zehn) im Restaurant. Den Läden mit überbordendem Porzellan, glitzernden Kronleuchtern in Kleinwagengröße und pailettenbestickten Blusen fehlt die Kundschaft, das Personal langweilt sich sichtlich. Denn die inzwischen wieder zahlreicher kommenden Deutschen und Franzosen haben doch einen anderen Geschmack, oder bei ihnen sitzt das Geld nicht so locker.

Es gibt nicht nur Kunst im „tschechischen Stil“

Weiterhin geöffnet hat das lokale Museum für moderne Kunst, das zurzeit eine wunderbare Ausstellung zu 100 Jahren seiner Sammlungsgeschichte zeigt. Für jedes Jahr steht ein Werk, dessen Schöpfer:in entweder dann starb oder es schuf. Der englische Texte behauptete zwar, auch Bilder aus Geburtsjahren seien zu sehen, aber das dürfte ein Missverständnis sein.

Skulptur einer sitzenden Frau Relief eines Frauenkopfes
So etwa sieht das aus, was wir für den „typisch tschechischen Stil“ halten.

Jedenfalls ein großartiger Überblick über die tschechische und slowakische Kunst der letzten 100 Jahre. Vorher hatten wir auf dem Hinweg in Ostrov („Schlackenwerth“) eine Ausstellung gesehen, die unsere Vorurteile auf das wunderbarste bestätigte: Es schien uns einen „tschechischen Stil“ in der bildenden Kunst zu geben, der sich seit dem Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts etabliert und nicht mehr wesentlich geändert hat. Und im Jahr 2022 Bilder zu sehen, die zwar ein, zwei Jahre vorher entstanden, aber exakt wie 60 Jahre ältere aussehen, ist etwas befremdlich.

Gemälde “Pflügender Junge” (Landbearbeitung) von Josef Brož 1959
„Pflügender Junge“ heißt diese Gemälde von Josef Brož aus dem Jahr 1959. Kein Junge weit und breit, und kein Sozialistischer Realismus.

In Karlovy Vary jedoch war zu sehen, dass es diesen vermuteten „Stil“ eigentlich gar nicht gibt, oder dass er jedenfalls nicht so dominant war, wie wir immer dachten. Vielmehr war die Kunst genauso vielfältig und abwechslungsreich wie anderswo. Und der Partei war es offenbar nicht wichtig gewesen, den „Sozialistischen Realismus“ als einzig wahre Form durchzusetzen. So gab es Abstraktes ebenso wie für die Arbeiter- und Bauernschaft wenig schmeichelhafte figurative Darstellungen zu sehen.

Gemälde „Zwielicht“ von Jakub Schikaneder 1909
„Zwielicht“, gemalt 1909 von Jakub Schikaneder

Wasserfolter statt Kurbetrieb

Aber die meisten Besucher:innen kommen sicherlich nicht wegen der Kunst hierher, sondern immer noch wegen des angeblich heilkräftigen Wassers. Das sprudelt hier schon länger warm aus der Erde, sodass seit über 600 Jahren der Kurbetrieb floriert. Ursprünglich wandten die Kurist:innen es nur äußerlich an, indem sie sich bis zu zehn Stunden lang in die warme Brühe legten. Das führte zu großflächigen Hautschäden, die aber als „gesund“ galten. Trinken mochte man das Wasser nicht, da eine „Versteinerung“ des Innern durch die enthaltenen Mineralien zu befürchten stand.

Fotos von der Evolution der Karlsbader Wasserbecher
Mit den Jahren entwickelten sich die Becher weiter, aus denen man das Karlsbader Wasser trinken soll. Heute ist der Ausguss in den Henkel integriert, was dem Ganzen die Anmutung einer Schnabeltasse verleiht.

Das änderte sich später, und statt sich stundenlang umspülen zu lassen, schütteten sich die Besucher:innen nun täglich sechs bis sieben Liter des heilkräftigen Nass rein. Dass allerdings schmeckt nicht etwa wie Mineralwasser, sondern eher wie alte Socke mit einem Hautgout von Asfalt. Derlei literweise zu schlucken, erfordert hohe Leidensbereitschaft, zumal das Zeug regelmäßig zu Durchfall führt. Der wiederum soll aber heilsam gewesen sein, da er die seinerzeit weit verbreiteten Parasiten ausspülte. Yuck.

Hölzerne Wandelhalle in Karlsbad
Eine der Wandelhallen, in denen Kurgäste an ihren Bechern nippend spazieren sollen

Inzwischen haben sich Badezeiten und Wassermengen verringert, und das Kurprogramm ist weit umfangreicher als einfach nur Plantschen und Trinken. In jedem zweiten Haus gibt es Wellness- oder Kosmetik-Angebote, Schönheitskliniken helfen der Schwerkraft und nachlassender Botox-Wirkung ab, und thailändische Massagesalons findet man fast häufiger als in deren Heimatland. Auf der Promenade am Fluss schlendern viele mit einem Porzellantässchen herum, aus dem sie gelegentlich einen Schluck nehmen. Diese Behälter sind heutzutage zwar insofern einheitlich geformt, dass der Griff zu einem Ausguss verlängert ist (fast wie eine Schnabeltasse, aber das wollen wir nicht denken). Ganz und gar uneinheitlich jedoch ist das Dekor: Es gibt Tassen in Katzenform, ganz schlicht, schlicht mit Punkten oder Streifen, in Form einer orthodoxen Kirche, mit kitschigen Bildchen es Kurorts… Vermutlich kann man sich die Becher auch mit dem eigenen Foto bedrucken lassen.

Keine einfache Umgebung für Fleischverächter

Ob das regelmäßige Nippen an dem gräsigen Gebräu wirklich gegen irgendetwas hilft? Keine Ahnung. Und in Anbetracht des Geschmacks haben wir auch kein Interesse, das herauszufinden. Möglich immerhin, dass einige Wassertrinkende hoffen, durch die abführende Wirkung Pfunde zu verlieren. Aber sogar eine Dauerdiarrhöe dürfte der tschechischen Küche nichts Wirksames entgegensetzen können.

Fleisch mit Fleisch an Fleisch ist immer noch deren Kernkompetenz. Wenn auch Gemüse inzwischen häufiger als Beilage auftaucht als früher, und es gibt manchmal sogar vegetarische Gerichte, die nicht aus gebackenem Käse („Hermelin“) bestehen. Aber dafür muss man schon von der Promenade und der Fußgängerzone weg schlendern, wo im Wesentlichen Wurst, Schweinebauch, Schweinebraten, Steak und Gulasch mit Knedliki (diese weißen, völlig geschmacksbefreiten Dinger) serviert werden. Sogar in „Goethe’s Beer House“. Der arme Kerl kann sich ja auch nicht wehren. Dort wartet man übrigens länger auf einen Salat als auf den gegrillten Schweinebach.

Wer ein bisschen was anderes möchte, findet das auch, muss aber suchen und mehr bezahlen. Wir waren zufrieden im „Embassy“ und glücklich in der „Promenada“: Böhmische Küche, nach der man noch aufstehen kann oder noch lieber wieder von vorn anfangen möchte.

Unser Hotel hat das mit dem Gemüse übrigens auch entdeckt und bietet es „gebraten“ zum Frühstück. Tatsächlich dürften sie es eher am Abend ohne Salz in den Kombidämpfer geworfen und bis morgens dort vergessen haben. Das, was sie Brokkoli und Möhren antut, sollte der Küche ein mindestens fünfjähriges Gemüsebrat-Verbot einbringen.

Rosafarbene Villa in Karlsbad Gelbe Villa in Karlsbad
Im Viertel oberhalb des Ortes bestanden die Stadtplaner Ende des 19. Jahrhunderts auf einer Bebauung mit Villen. Hier steht auch die der Familie Becher, die den Likör „Becherovka“ erfand. Heute beherbergt sie eine Dependance des Kunstmuseums.

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