Rathaus usti

Steine des Schreckes prägen Usti nad Labem

5.6.2022

Wer zum ersten Mal nach Usti nad Labem hereinfährt, dem ehemaligen Aussig an der Elbe, möchte vermutlich sofort wieder weg. Die Stadt spielt, was Hässlichkeit angeht, in einer Liga mit Schweinfurt, Pforzheim und Darmstadt, denen der Weltgeist sogar geeignete Namen verpasste.

Allerdings: Der erste Eindruck trügt. Zwar werden die hässlichen Ecken weder weniger noch kleiner, noch kann man sich das Erscheinungsbild von Usti mit viel Pilsener Urquell schön trinken. Doch nach einiger Zeit lässt sich besser verstehen, warum vieles so verhauen aussieht.

Nachwende-Haus mit abgerundeten Ecken in Usti
Eine der Perlen von Ustis Stadtarchitektur ist dieses 70er-Jahre-Gebäude, das allerdings erst nach der Wende entstand. Der blaue Klotz im Hintergrund beherbergt das „Interhotel Bohemia“. Es sieht aus der Nähe genauso ansprechend, wie der Name vermuten lässt.

Die Stadt war, wie ganz Nordböhmen, bis Ende des 2. Weltkrieges überwiegend von „Deutschen“ bewohnt. Was weniger die Nationalität bezeichnete, als die Sprache und das Gefühl der Zugehörigkeit. In Karlovy Vary zum Beispiel bezeichneten sich 1930 von 23.900 Einwohnern 20.800 als Deutsche, in Usti waren es 80 Prozent der rund 95.000 Einwohner. Während der Weltwirtschaftskrise wuchs deren Gefühl der Benachteiligung, und nationalistische Vereinigungen wie die Sudetendeutsche Partei gewannen immer mehr Einfluss – bei den letzten freien Kommunalwahlen errang sie im „Sudetenland“ über 80 Prozent der Stimmen. Sie verlangte eine weitgehende Autonomie der Sudetendeutschen samt einer eigenen Verwaltung, was die ČSR in ihrer damaligen Form zerstört hätte.

Art-Deco Haus in Usti nad Labem, Zentrum
Zwischen den weniger eleganten Neubauten aus sozialistischer Zeit und den spärlichen Resten des Klassizismus finden sich in Usti gelegentlich auch Perlen wie dieses Art-Deco Haus.

Den Wunsch aus der Region nach Eigenständigkeit hatten die deutschen Faschisten gefördert. 1938 nutzten sie ihn, um die überwiegend von „Deutschen“ (mit tschechoslowakischem Pass!) bewohnten Gebiete als „Protektorat Böhmen und Mähren“ zu annektieren. Allerdings leisteten die wenigen sudetendeutschen Sozialisten und Kommunisten großen Widerstand dagegen.

Fabrikgebäude an der Elbe bei Usti
Früher war das Elbufer vollgebaut mit Glas- und Chemiefabriken. Heute stehe noch ein paar Reste, teilweise wieder genutzt.

So gelangte die Industrie von Usti nad Labem unter die Kontrolle der deutschen Faschisten, die IG Farben verleibte sich die Chemiefabriken ein. Die Stadt war, wie Pilsen mit den Škoda-Werken, kriegswichtig und wurde noch im April 1945 so heftig von den Alliierten bombardiert, dass vom Zentrum praktisch nichts übrig blieb.

Manchmal muss man ein bisschen zurückschauen, um den Zustand von Städten 80 Jahre nach Kriegsende zu verstehen – das gilt auch für Schweinfurt, Pforzheim und Darmstadt. Usti nad Labem jedenfalls bauten die neuen Machthaber so wieder auf, wie man es damals überall in den sozialistischen Ländern machte: große, leere Plätze mit monströsen Regierungsgebäude im Innern, Wohnkasernen am Stadtrand und das alles ohne Plan davon, wie es angenehm sein könnte.

Bepflanzte Rabatte in Usti nad Labem Inzwischen spielt „angenehm“ eine größere Rolle in der Stadtplanung. So entstanden überall liebevoll bepflanzte und gepflegte Grünflächen. Da blühen Purpurglöckchen, Zierlauche, Lavendel, Storchschnäbel und alles mögliche andere, das auf die Schnelle nicht zu identifizieren war. Rund um den Rathausplatz zieht sich eine Grünanlage mit Platanen, auch zwischen unserem Hotel und dem Stadtmuseum liegt so ein kleiner Park, dessen aufwendige Wasserspiele allerdings nicht funktionieren. Und diese Anlagen werden genutzt, ebenso wie die Promenaden an der Elbe. Auf denen müssen Fußgänger sich vorsichtig benehmen, da sie als nationale Radautobahn Nummer 2 fungieren und entsprechend beliebt sind bei Zweiradfahrern.

Zu Fuß gelangt man auf dem rechtselbischen Weg von der Stadt nach Überwindung von 80 Höhenmetern im Wald (gefühlt 200) zur Burg Schreckenstein. Zu dem Namen wie aus einem Micki-Maus-Heft passen die noch stehenden Reste: Es gibt einen Rittersaal, einen großen Saal, einen Turm, und das alles in einem Zwischenzustand zwischen Restaurierung und Verfall. Eigentümer des Gemäuers sind die Durchlaucht von Lobkowicz, denen in der Tschechischen Republik noch so einige andere Latifundien (wieder) gehören. Von Burg Schreckenstein hat man einen großartigen Blick auf die Elbe samt Industriebetrieben und -ruinen.

Burg Schreckenstein bei Usti
Burg Schreckenstein war schon mal wesentlich mehr verfallen. Vom Turm aus kann man die Elbe rauf und runter gucken.

Zurück geht es wieder rechtselbisch am Ufer entlang. Kurz hinter der Brücke in die Stadt betreiben junge Leute eine Getränkestation. Dort bekommt man, wie fast überall, „domači limonady“. Wobei das Attribut „hausgemacht“ mit Vorsicht zu genießen ist: Manchmal bedeutet es auch nur, dass die Tresenperson Zucker, Fabriksirup und Wasser in ein Glas schüttet und umrührt. Meist aber, auch hier an der Elbe, gibt es wirklich leckeren Stoff aus Holunder(-blüten), Waldobst, Ingwer, Limetten oder Ananas mit Kokos.

Museum von Usti nad Labem von vorne
Das Stadtmuseum von Usti nad Labem zeigt gerade die Ausstellung „Unsere Deutschen“, deren Besuch sich sehr lohnte. Man erfährt unter anderem, dass das tschechische Wort für Deutsche, „Němci“, vom Begriff „stumm“ abgeleitet ist. Vermutlich kamen die ersten Deutschen aus Westfalen oder von der Küste.

In der Stadt zeigt das lokale Museum gerade seine Ausstellung „Naši Němci“, also „Unsere Deutschen“. Man könnte versucht sein, einen Bogen darum zu machen und hätte ein großartiges Erlebnis versäumt. Dieses Museum in Usti hat offenbar keinerlei Finanzprobleme und zudem sehr fähige und engagierte Beschäftigte. Die haben eine sich über zwei Etagen erstreckende Ausstellung erstellt, in der man viel über die gemeinsame Geschichte der Deutschen und Böhmen in der Region seit dem 13. Jahrhundert erfährt. Sie bricht allerdings mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der beginnenden Vertreibung der Deutschen etwas abrupt ab. Das Massaker von Aussig im Juli 1945 kommt also nicht vor. Aber das muss wohl nicht überraschen.

Jedenfalls deckt die zweisprachige Ausstellung mit Bildern und Texten, Audio- und Videodokumenten alle möglichen Aspekte des Lebens ab und legt einen Schwerpunkt auf die „öffentlichen Arenen“: Parlament, Vereine, Parteien. Klar wird, dass es spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder Streit um Sprache und gefühlte Diskriminierung zwischen Tschechen und Deutschen gab. Schon nach dem 1. Weltkrieg wollten große Teile der Sudetendeutschen beim drastisch verkleinerten Österreich bleiben – schon aus geografischen Gründen Unfug. Und angesichts des Verhaltens der deutschen „Herrenmenschen“ gegenüber den Tschechen während der deutschen Besetzung erstaunt deren Verhalten nach Kriegsende kaum.

Blick auf Větruše von unten
Mit der Seilbahn geht es ganz ohne Stützen vom Shopping-Center „Forum“ nach Větruše mit dem gleichnamigen Hotel. Von dort kann man wieder auf Usti heruntergucken und durch den Wald spazieren.

Mit der Seilbahn brachen wir nach den teils recht niederdrückenden Bildern wieder zu Höherem auf. Sie führt vom neueren der beiden innerstädtischen Shopping-Center zum Berg Větruše. Dort gibt es auf den ersten Blick außer einem Hotel mit Restaurant nichts zu sehen. Wer mag, begibt sich von dort auf einen knapp acht Kilometer langen Rundweg durch den Wald oberhalb der Elbe. Schön ruhig, schön schattig, und kaum jemand da. Wir haben uns damit begnügt, bis zum Humboldt-Aussichtspunkt zu spazieren. Von dessen Bank gebe es „besten Blick“ zur Burg Schreckenstein, so die Werbung. Tatsächlich war das Gemäuer so weit weg, dass man es nur mit Mühe sehen konnte.

Nun ist langsam Ende mit dem Ausflug in die Tschechische Republik. Zweierlei sei noch erwähnt: O-Busse und Hausnummern. Erstere fahren hier in allen größeren Städten, und es drängt sich die Frage auf, warum die deutschen Verkehrsbetriebe so ein Halligalli um E-Busse veranstalten. Ein paar Oberleitungen verlegen, Busse von Solaris in Polen kaufen, und schon ist die Entkohlung des Nahverkehrs ein gutes Stück vorangekommen. Das dürfte sicherlich billiger und schneller zu bewerkstelligen sein als Straßenbahnen oder U-Bahnen zu bauen. Außerdem vermeiden Oberleitungen den Aufwand mit Herstellen, Aufladen und Entsorgen von Batterien.

Oberleitungsbus im Zentrum von Usti nad Labem
In größeren tschechischen Städten sieht man überall Oberleitungsbusse. Warum nicht in Deutschland?

Und dann sind da noch die Hausnummern. Sie kommen immer in Paaren, eine rote und eine blaue. Die rote ist immer größer als die blaue, und es ist kein Zusammenhang zwischen beiden zu erkennen. Falsch allerdings wäre die Vermutung, die rote Nummer stamme noch aus sozialistischer Zeit und die blaue sei sozusagen die freiheitliche Variante einer diktatorischen Zahl. Vielmehr sind die blauen tatsächlich Hausnummern, und die roten haben irgendetwas mit dem Kataster zu tun – vielleicht Flurstücke?

Rote und blaue Hausnummern
Tschechische Hausnummern kommen immer im Doppelpack: blau für die echte Hausnummer, rot für das Flurstück.

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