Blick vom warschauer schloss

Posen, nicht Pforzheim

4.10.2013

Siebzig Jahre sind eine lange Zeit. Oder auch nicht, wenn der Trümmerhaufen nach dem Wiederaufbau nicht wie Pforzheim oder Darmstadt, sondern wie das alte Warschau aussehen soll oder wie Posen vor dem Krieg.

Das hat zumindest in vielen polnischen Altstädten geklappt, und wenn man sich nur dort aufhält, könnte man glauben, der Sozialismus habe hier ebenso wenige Spuren hinterlassen wie die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee. Warschau wirkt wie aus dem barocken Ei gepellt, inklusive Katzenkopfpflaster. Posens Marktplatz ist vermutlich genauso jung, hat sich aber in eine perfekte Renaissance-Maske geworfen.

Schloss in einem Vorort von Warschau im Abendlicht
Schloss in einem Warschauer Vorort

Außerhalb der restaurierten Rechtecke ist die weniger hübsche Vergangenheit aber unübersehbar: Überall in der Posener Innenstadt klaffen noch Lücken, außerhalb beherbergen Plattenbauten die Menschenmassen. Die früher völlig überdimensioniert wirkenden Ausfall- und Durchfahrtsstraßen sind im Berufsverkehr genauso verstopft wie überall.

Nach Warschau ist mehr Geld geflossen, dort konkurrieren Glastürme mit dem von Stalin geschenkten Palast der Wissenschaften um den Höhenrekord.

Der Verkehrsknotenpunkt Warschaus mit Blick auf den Kulturpalast
Der Verkehrsknotenpunkt Warschaus mit Blick auf den Kulturpalast

Original Berlinski Kebab mit Fleisch, wahlweise Asia-Pfanne in Poznan. Bau- und Kriegslücken gibt’s dort nicht, aber schon die ersten Investitionsruinen… In den Vorstädten entstehen schicke Wohnhäuser, zum Beispiel im bislang schäbigen Stadtteil Praga. Da siedeln sich auch die ersten Künstler in leeren Fabriken an. Neukölln lässt grüßen, und Berlin ist hier überall im Gespräch: vom Original Berlinske Kebap bis zum Katalog über das polnische Leben dort.

Ehemalige Brauerei in Posen, jetzt ein Einkaufszentrum
In der ehemaligen Brauerei kann man jetzt alles kaufen. Hauptsache, schick.

Denkmäler und Bronzeplatten an den Häusern erinnern allerorten an mehr oder weniger berühmte Polen. Ein Stein, auf den Chopin niemals seinen Fuß setzte, ist kein ordentlicher Stein. Gedacht wird Adam Mickiewicz’ und des Ben-Hur-Autors Sinkiewicz mit Straßen und Plätzen, Lutosławski und Penderecki bekommen Konzerte oder ganze Festivals gewidmet, und dann gibt es noch Militärmuseen, Widerstands- und Befreiungsdenkmale sowie JP-lII-Scheußlichkeiten in allen Formen, Farben und Größen.

Bronzetatue von Papst Johannes Paul II, fliegend Papst Johannes Paul II als Foto und schlechtes Gemälde.
Der polnische Papst als Foto, schlechtes Gemälde und fliegend in Bronze

Jüngeren Polen scheint da manches zu rückwärtsgewandt, deutete unsere Führerin im Museum für moderne Kunst an. Das übrigens wartet schon seit 2010 auf seinen Neubau, jetzt kommt erstmal ein neuer Wettbewerb. Was aber der Kunst nicht schadet, vielleicht sogar au contraire? Paweł Althamer, der schöne Skulpturen macht und nicht so langweilige wie Balkenhol, hat die Mühsal der Museumsmodernisierung mit Abflussrohren in ein schönes Bild umgesetzt: Zwölf Leute ziehen das Modell des Gebäudes wie weiland Treidler ein Schiff.

Am Wochenende hatten einige Warschauer Galerien geöffnet, und man wälzte sich mit Hunderten anderen durch die mal banalen, mal interessanten und gelegentlich guten Ausstellungen. Im Nationalmuseum gab’s freien Eintritt und eine Führung in der Nationalsprache durch die Kunst des 20. Jahrhunderts. Der Audioteil brachte uns wenig, aber die Bilder waren zum großen Teil Klasse. Noch besser Posen: Das dortige Nationalmuseum ist riesig und spendiert der Gegenwartskunst zwei Etagen. Da findet man dann auch mal fünf Bilder oder mehr vom selben Künstler nebeneinander. Und zudem durchaus misslungene Scheußlichkeiten (auch aus früheren Epochen) – Hauptsache, der/die Malerin stammt aus Polen.

Misslungene Porträts polnischer
Adliger
Missglückte Porträts polnischer Adliger

Wer mal herfindet: Wróblewskis „Exekution mit Jungem“ und die Bilder von Wyspiański unbedingt angucken! Letzterer hat allerdings auch einiges an Kitsch produziert.

Selbst wenn keine Gratis-Kunst lockt: Hier wälzt man sich des abends auch Anfang Oktober noch durch die Straßen wie sonst nur in Südeuropa. Die Ryneks sind voll von Menschen, von denen einige auch voll sind. Überall Restaurants und Bars, auch in Hinterhöfen und Kellern. Und Raucher sind in Polen noch nicht ins Abseits gedrängt, in etlichen Kneipen wird drinnen gequalmt.

Bild „Exekution mit Jungem“ von Wróblewski
Wróblewskis „Exekution mit Jungem“

Gesprochen wird auf Wunsch Englisch, mit unterschiedlicher Begeisterung. Viele junge Gebildete können gar nicht schnell genug umschalten und sprechen teilweise ein exzellentes Englisch. Abseits vom Touristentrubel sieht es da schon anders aus, aber wie in der Türkei überwiegt der Wunsch, dem Gast zu helfen. Dran denken, wenn bei uns mal wieder jemand hilflos rumsteht!

Ein Kiosk in Poznan bietet deutsche Waschmittel an
Ein Kiosk in Poznan verkauft gute deutsche Waschmittel.

Kurz: Hinfahren. Ist ja für viele nicht so weit — nach Warschau braucht der Zug von Berlin auch nicht länger als nach Köln. Vor Ort fahren Straßenbahnen aus allen Epochen für einen Spottpreis. Und mit etwas Glück erwischt man eine Aufführung eines Penderecki-Stücks. Wenn das nicht klappt, hier schon mal ein bisschen Partitur zum selber Summen.

Partitur einer Komposition von Penderck