Tote Omas, kräftige Finger und ein ruhiger Fluss
26.3.2019Bad Schandau. Das war unsere Antwort auf die Frage „Wohin, wenn’s ruhig und nicht zu weit weg sein soll?” Für Geografie-Agnostiker: Das Örtchen liegt an der rechten Seite der Elbe, rund sechs Kilometer von der tschechischen Grenze. Wer mit der Bahn kommt (sogar ein EC hält dort), steigt linkselbisch aus und nimmt die Fähre auf die andere Seite.
Auf beiden Seiten der Elbe ragen die eigenartigen Formen des Elbsandsteingebirges nach oben: Rest eines urzeitlichen Meeresbodens, den die Elbe in den letzten 90 Millionen Jahren ab- und rundgeschliffen hat. An einigen Felsen erkennt man noch die Wellenbewegung von damals, mit viel gutem Willen. Womöglich inspiriert vom Fluss bemüht sich das lokale Sächsisch heute, jede Härte aus dem Deutschen raus- und die Sprache rundzuschleifen. Anfänglich mag das norddeutsche Ohr noch etwas leiden, aber mit der Zeit wirkt der Dialekt ähnlich gemütlich und behaglich wie die durch die Landschaft ziehende Elbe.
Beim Gewöhnen an den Dialekt hilft das ausgeprägte Redebedürfnis der Einheimischen. Wer hier in einen Laden geht, sollte genügend Zeit mitbringen. Mal gibt es einen Vortrag über das Leben in der ehemaligen DDR, mal über die Vorzüge bestimmter Wanderschuhe. Immer in westfälischer oder gar schweizerischer Gemächlichkeit, gerne mit eingestreuten „Nu”s. Was so viel wie das Berliner „wa”, das süddeutsche „gell” oder das Schweizer „oder” bedeuten kann. Oder auch „Ja”, etwa statt des inflationär benutzten „sehr gerne” im Restaurant.
Wobei das mit dem Bestellen gar nicht so einfach ist Anfang Februar: In der Vorvorsaison sind viele Etablissements geschlossen oder haben nur Samstag und Sonntag geöffnet. Oder Sonntag bis Mittwoch. Oder nur abends. Immer jedoch macht die Küche spätestens um 21 Uhr zu. In der Hauptsaison hingegen möchte man vermutlich gar nicht dort sein, da dürfte es schon schwierig werden, einen Platz auf der Fähre zu bekommen.
Wo tote Verwandte auf den Tisch kommen
Kulinarisch war Bad Schandau, wo es geöffnet hatte, jedenfalls unaufregend. Fast alle deutschen Lokale bieten Schnitzel (die experimentierfreudigen in den Varianten „Jäger” und „Zigeuner”), anderswo bekommt man Pizza/Pasta. Das China-Lokal hatte Winterpause. Gelegentlich steht Tiegelwurst auf der Karte, auch als „Tote Oma” bekannt. „Sieht auch so aus”, meinte eine Kellnerin. Woher ihr Wissen wohl stammt? Tatsächlich handelt es sich meist nicht um abgelebte Vorfahren, sondern um Blutwurst, serviert mit Sauerkraut und Kartoffeln. Visuell eher nicht so aufmunternd, aber geschmacklich wohl ganz in Ordnung. Als Höhepunkt der lokalen Küche entpuppte sich unerwartet unser Hotel „Lindenhof”: Dort schmeckte das Essen, war kein nullachtfünfzehn-Einheitsbrei, und vor allem servierte man aufessbare Portionen. Anderswo bekommt der Gast gerne mal Mengen aufgetischt, die nach harter mehrstündiger Feldarbeit angemessen wären – aber sicherlich nicht nach einem gammelnd verbrachten Urlaubstag.
Da es an großstädtischen Reizen wie Kino, Oper, Theater fehlt und das Angebot an Museen überschaubar ist, verweisen Bad Schandau und das umliegende Elbsandsteingebirge seine Besucher auf einfache, ruhige Vergnügen. In erster Linie wandert man dort. Da die Berge maximal drei-, vierhundert Meter hoch sind, geht das meistens ohne schweißtreibende Anstiege ab. Allerdings führen manche Strecken, etwa die als „leicht” angekündigte Rundwanderung um Bad Schandau, durchaus steil bergan. Der eigentlich milde Winter hatte diesem Weg zudem etwas zugesetzt, sodass kraxeln angesagt war.
Oben angelangt, steht man auf einer Hochebene, in Lokal-Deutsch „Ebenheit”, und hat gelegentlich einen großartigen Blick ins Elbtal. Weiterer Höhepunkt ist das Gasthaus „Heiterer Blick” auf der Hälfte des Rundwegs. Nicht nur hatte es im Winter mitten in der Woche überhaupt geöffnet, man bekam auch leckeres Essen freundlich serviert. Was anderswo nach erfolgreicher Bergbesteigung keineswegs üblich war: Am „Kuhstall” (eigentlich ein großes Tor in einem Felsen) hatte alles geschlossen, und am Kaiserstein wäre es beinahe zum ersten Todesfall durch Linsensuppenvergiftung gekommen. Im Ernst: Wer dort wegen des Blicks und der Ausstellung auf der Burg heraufklettert (empfehlenswert!), sollte besser eigene Vorräte mitnehmen. Die dortige Gastronomie ist derart unterirdisch, dass sie negative Sterne verdient hätte.
Nur an den Fingern nach oben
Wem herkömmliche Wanderungen zu banal sind, der klettert an den Felsen herauf. Und zwar nach sächsischen Regeln, also mit Seilen nur zum Sichern, nicht zum Dranhochziehen. Im Museum Bad Schandau waren gerade Bilder davon zu sehen, die Flachländern von mulmig bis Höhenangst viele unangenehme Gefühle vermitteln konnten. In der Realität bekamen wir die Kletterei im Sonnenschein an der Bastei zu sehen: An etlichen der solitären Felsen zogen sich (vermutlich) junge Leute nur an ihren Fingern nach oben, wo sie dann auf einer schmalen Kante anscheinend ganz entspannt saßen. Muss man mögen.
Im Elbsandsteingebirge gibt es für alle anderen ebenerdig urst romantische Wege durch „Schlüchten”, eingerahmt von hochaufragenden, verwitterten Sandsteinfelsen. Auf denen stehen oft Bäume, die sich wohl nur noch aus Gewohnheit halten. Reicht das nicht mehr, liegen sie als Nahrung für Pilze, Moose, Käfer kreuz und quer in der Gegend herum. Da der Nationalpark wieder zurück zur Natur vor der Waldbewirtschaftung soll, verkneift sich die Verwaltung fast alle Eingriffe. Lediglich über Wanderwege gefallene Bäume lässt sie absägen und die Stücke im Wald drapieren. So entsteht, zumindest wenn der Park so wenig besucht ist wie jetzt, schon fast der Eindruck von Urwald. Abgesehen von Bäumen war so früh noch nicht viel los mit der Vegetation. Ein paar Schneeglöckchen, viel Moos, Flechten und Farne. Bad Schandaus Botanischer Garten öffnet erst im März.
Wandern ja, zu Fuß gehen lieber nicht
Der Ort ist, wie auch das direkt nebenan gelegene Schöna, nahezu perfekt renoviert und strahlt deutsche Kurortgemütlichkeit vom Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Auf den ersten Blick perfekt. Auf den zweiten, vor allem wenn man zu Fuß geht, stört die autobegeisterte Verkehrsplanung. Bürgersteige enden plötzlich im Nichts, an Straßenecken verhindern Eisenketten das Überqueren, und auf dem riesigen ehemaligen Marktplatz gibt es zwar zwei Stellplätze für Autos, aber keinen einzigen Baum. Die einzige Ampel im Ort steht direkt beim Aufzug, der fünfzig Meter den Berg hoch fährt. Überall sonst müssen Fußgänger entweder flott über die Straße hechten oder hoffen, dass mal jemand anhält.
Bad Schandau liegt ebenso an einer zweispurigen Durchgangsstraße (rechtselbisch) wie der linkselbische Bahnhof. Wozu man diese zwei Verbindungen zwischen Dresden und der Tschechischen Republik wohl zu glauben braucht? Vielleicht sollten die Stadteltern mal einen Blick in Richtung Amalfi-Küste werfen: Dort sind Autos allenfalls geduldet, und exorbitante Parkgebühren halten den Verkehr gering. Zudem gibt es dort nur eine Straße, die zur Hochsaison immer nur in eine Richtung freigegeben ist.
Und – gibt’s da eigentlich Nazis? Das fragen sich sicherlich ebenso wie wir einige. Schließlich hat Sachsen seinen Ruf weg, zu dem die Pegida-Demos ebenso beigetragen haben wie die Hetzjagd gegen Ausländer in Chemnitz und die auf dem rechten Auge schwachsichtige Landespolizei. Zumindest in Bad Schandau jedenfalls war nix von Faschisten zu sehen. Eher im Gegenteil: Unser Hotel bildet vier indonesische Jugendliche zu Gastro-Fachleuten aus. Womöglich sind Touristenziele nicht so anfällig für Rechtsradikales und Ausländerfeindlichkeit, weil sie von Fremden leben.