Historisierter plattenbau telavi

Telavi, wo der Wein wächst

7.10.2016

Die Autofahrt von Tbilisi nach Telavi in der Weinbauregion Kachetien verlief erstaunlich unspektakulär. Nach dem Verkehr in der Hauptstadt hätte es eigentlich wüst zugehen müssen, aber die Straßen waren nicht nur ziemlich leer und gut in Schuss, sondern auch weitgehend frei von den Testosteron-gebeutelten SUV-Fahrern, die Tbilisi unsicher machen. Dort sind Fußgänger im Vorteil, die schon mal in Hanoi oder Saigon geübt haben. Denn genau wie in Vietnam heißt es „Augen geradeaus und durch“. Großer Unterschied allerdings: In Vietnam stieße man höchstens mit einem Moped zusammen. Fußgänger jedenfalls sind in Georgien Leute, die es nicht zum Auto gebracht haben. Also Loser, auf die man keine Rücksicht nehmen muss. Zwar gibt es Zebrastreifen, aber die haben nur eine ästhetische Funktion zur Auflockerung des grauen Asfalts. Ampeln kosten Geld, weshalb man sie fast gar nicht aufstellt.

Servicestellen für gefährdete Bürger

Da die Bevölkerung auf den breiten Straßen Tbilisis ohne Ampeln und Zebrastreifen heftig dezimiert würde, erlauben Unterführungen das Erreichen der anderen Straßenseite, wie in Moskau und Leningrad. Einerseits nett, andererseits nervig, weil natürlich so ein Tunnel nie da ist, wenn man ihn braucht. Wer abtaucht in diesen Untergrund, kann dort auch die wichtigsten Besorgungen erledigen. Denn in den meisten Unterführungen gibt es Lädchen, die Brot oder Wasser oder Ikonen oder Klamotten oder Souvenirs anbieten. Nur Klos fehlen, was man häufig riecht.

Public Service Hall in Tbilisi
Die „Public Service Hall“ in Tbilisi…
Public Service Hall in Kazbegi
… und ihr Gegenstück in Kazbegi sehen nicht nur futuristisch aus. Sie leisten aus deutscher Sicht auch Futuristisches.

Wie in Tbilisi ist das modernste Gebäude auch in Telavi die „Public Service Hall“. Das entspricht etwa dem, was in Berlin die Bürgerämter sein sollen: zentrale Anlaufstellen für alles, was man von Staat will oder für ihn tun soll. Im Unterschied zu unseren Bürgerämtern funktionieren diese Zentren hier. Es gibt keine Warteschlangen, die Halle steht voll mit moderner Technik und für einfache Aufgaben gibt es Selbstbedienungsschalter. Von der Gewerbeanmeldung über Geburtsanzeigen bis zum Reisepass kann man alles erledigen. Dank dieser Einrichtung mit ihrem Prinzip „alles an einem Schalter“ soll die Korruption in Georgien praktisch verschwunden sein. Darauf scheint auch hinzudeuten, dass sich das Land in der Wahrnehmung von Korruption von 2006 bis 2014 vom 99. auf den 50. Platz vorgearbeitet hat, laut Transparency International.

Nino Oniani Wahlplakat
Wahlplakat für Liste 41 an einem Kiosk
Wahlkampf scheint hier nur mit Personen stattzufinden. Liste 41 ist die der regierenden Partei.

Wahlkampf nur mit Köpfen

In wenigen Tagen finden hier Wahlen statt; das ganze Land ist mit Plakaten beklebt. Darauf sieht man immer das Foto des/der Kandidaten/in mit Namen. Illustrationen von Versprechen oder Ankündigungen wie bei uns fehlen hier. Besonders aktiv ist die Liste 41 der derzeitigen Regierungspartei. Die Nummer klebt sogar auf fast allen Marschrutkas in Tbilisi – wir hielten sie anfangs für die Buslinie 41. Die Partei gehört dem ehemaligen Ministerpräsidenten Iwanishwili, den die Georgier immer noch für den tatsächlichen Chef der Regierung halten. Offiziell bekleidet er aber kein Amt. Der Mann ist rund 8 Milliarden Dollar schwer, hat sich ein abenteuerliches Haus in den Bergen bei Tbilisi gebaut und mäzeniert an allen möglichen Stellen. So hat er mehrere Pirosmani-Gemälde auf internationalen Auktionen ersteigert und dem hiesigen Museum vermacht. In seinem Heimatort finanziert er Leuten die Hochzeit, die nicht genug Geld für das unverzichtbare große Fest haben.

Haus von Iwanishwili
Domizil des ehemaligen Ministerpräsidenten Iwanishwilis in den Bergen von Tbilisi. Links oben können Hubschrauber landen.

Galerist Alexander sieht ihn als Putin-Freund, der Georgien wieder näher an Russland heran rücken will. Eigentlich möchte das Land aber wohl in die EU, und das ist unübersehbar. Vor allen öffentlichen Gebäuden wehen die georgische und die EU-Flagge, sogar in vielen Restaurants stehen die beiden in kleinen Versionen herum. Ein vollwertiger Ersatz für UK wird Georgien wohl nicht, aber immerhin käme eine weitere lustige Sprache hinzu. Und neue Arbeitsplätze in Brüssel, dort braucht man dann unter anderem Übersetzer von Malti nach Georgisch und von Georgisch nach Ungarisch.

Ensemble mit Fahnen der EU und Georgiens
EU-Begeisterung zeigt sich auch in kleinen Arrangements in Restaurants.

Nun also Telavi, hinter den mittelhohen Bergen und vor den ganz hohen. Das Städtchen liegt an der Kante eines unglaublich langen und breiten flachen Tals, in dem ein großer Teil des hiesigen Weinanbaus stattfindet. Angeblich wurde der Wein in Georgien erfunden, aber das behaupten wohl auch andere Nationen. Jedenfalls produziert man ihn hier immer noch wie vor 5000 Jahren, indem man die Weintrauben komplett verarbeitet, inklusive Stengeln. Dadurch sind die trockenen Roten fast sauer und die mit „semi sweet“ ausgezeichneten durchaus trinkbar.

Weinranken an einem Haus
Wein wächst in Kachetien nicht nur auf den Feldern, sondern praktisch überall. Er begrünt Fassaden…
Weintrauben an Pergola
… und in einem Restaurant können sich die Gäste die Trauben in den Mund fallen lassen.

Stadt- statt Weinprobe

Um Telavi herum gruppieren sich zig Weingüter, die man besichtigen und deren Produkte man verkosten könnte. Mit dem eigenen Auto ist das aber nicht so sinnvoll, wir haben es deshalb gelassen und stattdessen einen Ausflug nach Signaghi unternommen. Das liegt rund 60 Kilometer von Telavi Richtung Osten und wäre eigentlich ein völlig Blick von Signaghi auf die Berge belangloses Örtchen. Wenn nicht irgendjemand beschlossen hätte, es vorbildlich zu restaurieren. Also spazieren jetzt (vor allem russische) Touristen durch die fast vollständig verkehrsbefreiten Straßen und erfreuen sich an den hübschen instandgesetzten Häusern. Es gibt Restaurants und Hotels, Souvenirverkäufer, ein langes Stück Stadtmauer und ein Museum. Das zeigt neben den wohl unvermeidlichen Faustkeilen (gibt es eigentlich noch was Langweiligeres als Faustkeile?) auch einen ganzen Raum voller Gemälde von Pirosmani.

Estragon-Limonade, Flasche mit Glas
Estragon-Limonade, diese war ohne Nebenwirkungen.

Außer dem überall angepriesenen Wein produziert Georgien einige lustige Limonaden. Manche Restaurants stellen die selber her, aber es gibt auch ungewöhnliche Fertigprodukte, unter anderem Brause mit Birnen- und Estragongeschmack. Letztere ist giftgrün, schmeckt aber lecker und gar nicht nach Wackelpudding. Leider hat wohl an einer Charge Montezuma mitgearbeitet, dessen Rache uns seitdem verfolgt.

Estragon ist in Georgien überhaupt wesentlich populärer als bei uns. So bot ein Restaurant in Telavi Kalbfleisch in einer Estragon-Sauce an. Das war geschmacklich durchaus überzeugend, aber das Fleisch stammte leider nicht unbedingt aus den zartesten Teilen des Kalbs.

Restaurierung hilft, manchmal

Zwischen Telavi und Signaghi steht in einem großen Park das Schloss einer georgischen Adelsfamilie mit einem zu komplizierten Namen, jetzt ebenfalls ein Museum. Man bekommt die üblichen Einrichtungsgegenstände des 19. Jahrhunderts zu sehen, aber das Besondere sind die Wechselausstellungen. In diesem Schloss irgendwo im Nirgendwo konnte man sich früher schon mal Picasso, Mondrian und Dali angucken. Als wir da waren, zeigten sie Bilder aus der New Yorker Guggenheim-Galerie. Schöne Sachen dabei, aber 115.000 Dollar für ein Gemälde … war auch zu groß fürs Handgepäck. An der lokalen Bevölkerung gehen diese Ausstellungen vermutlich unbemerkt vorüber, Werbung war jedenfalls nicht zu sehen. Und nicht mal unsere Reiseführer erwähnen die Wechselausstellungen.

Straße in der Altstadt von Telavi
Telavis Altstadt ist hübsch, aber das scheint niemand zu wissen.

Was in dem kleinen Signaghi geklappt hat, funktioniert in Telavi noch nicht: Touristen durch eine sanierte Altstadt anzulocken. Die Häuser sind hübsch und gut in Schuss, aber es ist kaum ein Mensch zu sehen. Es gibt dort weder Geschäfte noch Restaurants oder Bars, die Altstadt ist so steril und tot wie Ludwigslust. Auch sonst brodelt in Telavi nicht viel Leben; schon Essen gehen ist schwierig, da es kaum Restaurants gibt. Wir fanden zufällig eins, dass einem ehemaligen pakistanischen Offizier gehört. Der sprach sogar Deutsch (Englisch sowieso), weil er ein Jahr bei der Bundeswehr gelernt hat. Später nahm er dann an der UNO-Mission in Abchasien teil und hat sich vier Jahre nach seiner Rückkehr nach Pakistan in der georgischen Provinz niedergelassen. Man trifft hier eben auch tausend Jahre nach dem Ende der Seidenstraße noch Leute von überall.

Ähnliche Beiträge