Schlachtfeld- und andere Touristen in Çanakkale
10.10.2015Çanakkale ist die letzte Station in Asien. Vorher machten wir kurz Halt in Ayvalık, rund 130 km von Izmir Richtung Nordwesten. Das Städtchen liegt am Meer, in der Nähe ein paar Inseln mit Strand und Tauchmöglichkeiten. Zu sehen im klassischen Sinn gibt es hier wohl nix. Nach dem hektischen und vollen Izmir war Ayvalık aber eine echte Erholung. Im Sommer wird es vermutlich von Touristen überrannt, obwohl es keine Hotelburgen gibt. Aber die Stadt ist voll mit kleinen Unterkünften, und außerhalb dürften zig Ferienhäuser stehen. An der Uferpromenade fällt man von einem Café ins nächste, aber die üblichen Läden mit Souvenirs für Ausländer fehlen. Wie wohl auch die Ausländer selbst, Englisch wird jedenfalls nur selten gesprochen.
Kein Platz für Raser in Ayvalık
Die Altstadt schwankt zwischen Einsturz und Restaurierung, an vielen Stellen prallt beides direkt aufeinander. Man kann hier stundenlang durch die Gässchen laufen, ohne von rasenden Autos an die Wand gedrückt zu werden, denn zum Rasen ist es zu eng. Irgendwann kommt man an einer verfallenen Kirche vorbei, noch aus der Zeit der griechischen Besiedlung, und immer wieder an Lagerhallen. Einige davon beherbergen Autowerkstätten, andere Ateliers oder Clubs. Viele Verteilerkästen sind bemalt, auch an einigen Hauswänden gibt es Bilder. Abends haben wir auf einem ins Meer gebauten Steg wieder mal Meze und Fisch gegessen – wieder mal lecker und zu viel. Arg romantisch.
Danach also per Bus nach Çanakkale, das in anderen Gegenden der Welt als Gallipoli bekannt ist. Das war die zweite Tour mit der Busfirma Metro, die hier den Markt beherrscht. Sie zeichnet sich nicht nur durch das beworbene, aber nicht funktionierende WLAN aus, sondern auch durch viele bis zur Unfreundlichkeit desinteressierte Mitarbeiter. Wer also die Wahl hat, sollte es mit Pamukkale oder Uludağ versuchen. Welche Firma auch immer: Nicht im Web oder per App buchen! Wir scheiterten mit einer App mehrmals beim Bezahlen und standen ein andermal in Ayvalık mit dem Foto einer Website im Metro-Büro, um uns dort die Tickets ausdrucken zu lassen. Da ist es einfacher, gleich zur Busgesellschaft zu gehen. Die haben meist nicht nur Büros am Busbahnhof, sondern auch im Stadtzentrum. In größeren Orten gibt es auch kostenlose Zubringer zu den häufig weit außerhalb liegenden Terminals.
Preiswert mit dem Bus durch die Türkei
Die Preise der Firmen unterscheiden sich übrigens kaum. Für rund 150 km haben wir pro Person zwischen 13 und 20 Lira gezahlt, das sind etwa 4 bis 6 Euro. Selbst die „2+1“-Busse mit nur drei, breiteren Sitzen pro Reihe kosten oft nicht mehr. Garantiert ist immer dasselbe Musikprogramm: ein Querschnitt durch die schauderhaftesten Klingeltöne, die der Markt zu bieten hat. In der Regel beantworten Busreisende einen Anruf nicht sofort, sondern bieten den anderen Passagieren zunächst eine längere akustische Kostprobe.
Çanakkale liegt an den Dardanellen, wo das Marmarameer ins Mittelmeer übergeht. Militärisch war das schon lange eine wichtige Gegend, berühmt wurde sie dann im Ersten Weltkrieg. Da versuchten die britischen und französischen Militärs seit April 2015 etliche Monate lang, bei Gelibolu (Gallipoli) vom Meer aus in die Türkei und nach Istanbul zu kommen. Das war von vornherein keine so gute Idee, denn man musste vom Strand auf eine Anhöhe gelangen, auf der sich die türkischen Verteidiger befanden. Insgesamt starben bei der Aktion weit über 200.000 Menschen, und für etliche Leute aus Australien und Neuseeland ist Gallipoli deshalb bis heute ein Ausflugsziel. Die beiden Länder stellten nämlich mit dem ANZAC (Australian and New Zealand Army Corps) einen Teil der alliierten Truppen, der bei einem besonders sinnlosen Manöver regelrecht verheizt wurde. Peter Weir hat 1981 über die australischen Freiwilligen den sehenswerten Film „Gallipoli” gemacht – mit dem jungen Mel Gibson.
Statt nun in Australien oder Großbritannien gegen Kriegseinsätze zu demonstrieren, pilgern vor allem in diesem Jahr (100. Schlachtgeburtstag!) Australier und Neuseeländer nach Çanakkale, um sich die Schlachtfelder anzusehen. Naturgemäß kann keiner von denen dabei gewesen sein, es handelt sich also schon um Betroffenheit zweiten Grades. Wahlweise mit „Battlefield Tour”-Bussen oder auf eigene Faust setzt man über die Meerenge, am besten mit der Fähre „Barış mümkün” – „Frieden ist möglich”.
Mir kommt das alles ähnlich sinnig vor wie Verdun-Tourismus. Hier wirkt es noch ein bisschen bizarrer, weil die Türkei die Ereignisse positiv besetzt. So heißt die Uni in Çanakkale „18. März” nach der ersten Seeschlacht 1915 , und Atatürk verdiente sich bei Gallipoli seine ersten militärischen Sporen. Er verabschiedete seinerzeit das 57. Regiment mit den Worten „Ich erwarte nicht, dass ihr siegt, sondern dass ihr sterbt”, was die armen Trottel auch prompt machten. Aus „Respekt” gibt es bis heute kein 57. Regiment in der türkischen Armee.
Ein schwarzes Pferd mitten in Çanakkale
Und dann war da noch die andere große Schlacht, rund 2000 Jahre früher: Troja liegt ebenfalls in der Nähe von Çanakkale. Wir gucken uns das ein andermal an, hatten jetzt schon so viele Ruinen. Außerdem bauen sie dort gerade ein neues Museum, in dem bislang nicht viel zu sehen sein soll. Kein Wunder, der deutsche Ausgräber Schliemann hat schließlich einen großen Teil des Goldschatzes geklaut und in Berlin im Museum deponiert. In Çanakkale stehen auf der Promenade ein Troja-Modell und ein großes hölzernes Pferd. Das spielte im Troja-Film mit Brad Pitt.
Was aber macht jemand in Çanakkale, der mit dem ganzen Kriegs-Gedöns nix am Hut hat?
Einfach: Man geht spazieren und lässt sich in interessante Gespräche verwickeln, mogelt sich in eine Vernissage, wo man zwischen den Honoratioren der Stadt völlig fehl am Platz ist – so was halt. Das Meeresufer ist, wie man das aus der Türkei kennt, zum Promenieren angelegt. Hier warten Cafés, Bars und Eisbuden (Restaurants weniger) auf Besucher, Angler verkaufen ihren Fang auf einem improvisierten Mini-Fischmarkt. Wir hatten uns zentral, laut und schick einquartiert, gerade mal 50 Meter zum Meer. Gegenüber verwalteten vier testosterongeladene Jungs einen Parkplatz, der auch ohne Verwaltung klargekommen wäre. Aber wir hatten von Balkon aus immer was zu gucken.
Kneipengespräch über Merkel
Das erste Bier des Abends an der Promenade führte zu einem angeregten Gespräch mit drei Studenten. Wir mussten sogar unsere Meinung zu Merkel verraten, die ja im Moment nicht ganz so einfach in Worte zu fassen ist. Anlass war die Flüchtlingsfrage, und da ist einem Madame bei allen sonstigen Differenzen deutlich lieber als die beiden Pappnasen, mit denen sie sich eine Koalition teilt. Geredet haben wir übrigens Englisch, auf Türkisch stammele ich wie ein Dreijähriger. Aber immerhin wird gelegentlich die Aussprache gelobt, man ist sehr höflich hier.
Manchmal führt kein Weg an der Landessprache vorbei, denn trotz der Aussies ist Englisch nicht sonderlich weit verbreitet. Das hat wiederum den Vorteil, dass die Leute nicht einfach aus Freundlichkeit die Sprache wechseln, wenn man sie anstammelt. Aber für echte Gespräche muss es dann doch Englisch sein, wie in der örtlichen Handelskammer. Da landeten wir durch Zufall, weil ein Schild draußen für eine Kunstausstellung warb. Die Chefin des Ladens hatte sechs Jahre in London gelebt und erzählte uns eine gute Stunde lang allerhand über Çanakkale, türkische Politik und Troja. Dank ihrer Beschreibung fanden wir leicht den Weg zum Keramik-Museum, das in einem ehemaligen Hamam untergebracht ist und einen Besuch lohnt. Nicht unbedingt wegen der doch oft zu grobschlächtigen Stücke. Aber die Ausstellung war sehr liebevoll aufgebaut und großartig in das Gebäude eingepasst.
Bei der erwähnten Vernissage ging es um Miniaturen, allerdings eher große. In Indien malen sie die ja so, dass man ab Anfang Dreißig eine Lupe beilegen muss. Die hier waren nicht so fisselig, konnten uns aber überwiegend nicht begeistern. Zu traditionell, sowohl der Stil als auch die Themen. Aber auch das war wieder so ein Zufall, wie sie uns diesmal oft zustoßen: Irgendwo in der Stadt warb ein einsames Plakat für die Eröffnung, die just eine halbe Stunde später begann. Häppchen und Drinkchen (alkoholfrei, versteht sich) bekamen wir anstandslos, obwohl kurz behost und deshalb inkompatibel mit den zahlreichen Honoratioren.
Weil’s so schön war, verlängerten wir um einen Tag und guckten noch das gegenüberliegende Fort sowie das städtische Museum an. Auch dort gab es wieder ausführliche persönliche Erklärungen auf Englisch. Schade, dass diese engagierten Leute nicht für die lokale Tourismus-Info zuständig sind. Die verteilt nur einen veralteten Stadtplan.