Ibirapuera schriftzug

Ohne Auto unterwegs in Sao Paulo

4.10.2017

Von Paraty nach Sao Paulo brachte uns wieder der Leihwagen; über recht leere Straßen durch die dschungelig-grünen Berge. Die „größte Stadt auf der Südhalbkugel“, sagt Wikipedia; gefühlt fuhren wir anderthalb Stunden lang auf der Autobahn durch Vorvorvor-, Vorvor- und Vororte. Nicht wirklich einladend. Auch die Gegend um das Hotel konnte keinen Schönheitspreis gewinnen. Immerhin nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt lag der riesige Parque do Ibirapuera, in dem sich mal wieder Niemeyer verewigt hat. Durch das Gelände schlängelt sich ein rund 10 Meter breites Betondach, das einige Gebäude (von Niemeyer, wem sonst) verbindet. Unter dem Dach treffen sich Skater, drum herum sonnen sich die Leute oder machen Picknick oder was man sonst so tut im Park. Gelegentlich kommen Sprayer vorbei und verschönern die Pfeiler des Dachs oder Gebäude im Park.

Skater üben im Ibirapuera Parque in Sao Paulo
Unter Niemeyers Dach treffen sich am Wochenende die Skater.

Unser Besuch fiel mit einer größeren Laufveranstaltung zusammen, sodass es nur so wimmelte von mehr oder weniger sportlichen Brasilianern. Das Museum für moderne Kunst baute gerade um, in den Pavillons der Biennale fand eine Baby-Messe statt. Da beides ausfiel, gingen wir ins Museum der Afro-Brasilianer, das sich trotz des grauenhaften Äußeren als wahres Kleinod entpuppte. Es zeigte sowohl eine ausführliche Darstellung der Sklaverei in Brasilien (es war das letzte Land, das sie abschaffte), als auch moderne Kunst von Afro-Brasilianern. Vieles war zwar nur Portugiesisch beschriftet, aber man kann nicht alles haben.

Skyline von Sao Paulo
Sao Paulo aus der Ferne scheint nichts Ungewöhnliches zu haben.

Leider stellten sich der Parque do Ibirapuera und der Botanische Garten als das Schönste in Sao Paulo heraus, was uns über den Weg lief. Belo Horizonte mit seinem eigenartigen Mix aus Klassizismus Art Deco, Niemeyer und wildgewachsenen Neubauten zeigte sich schon nicht wirklich hübsch, aber Sao Paulo schien uns nachgerade hässlich. Es gibt allerdings, wie wir inzwischen wissen, noch Steigerungen. Bis auf den Park ist uns dort kein Platz begegnet, an dem wir wirklich gern gewesen wären. In der Fußgängerzone klebten Goldaufkäufer wie Kletten an den Passanten, viele Läden nicht nur dort standen leer. Der Park auf dem Platz der Republik fungiert offenbar als großer Schlafplatz für Wohnungslose, dort macht niemand mehr sauber.

Hässliche Ecke in Sao Paulo
Ecken wie diese (und noch grausigere) findet man in Sao Paulo überall.

Die verrottende Altstadt von Sao Paulo

Sechs-, achtspurige Straßen schneiden sich quer durch die Stadt, und das alte Stadtzentrum wurde komplett untertunnelt. Dort sieht man noch das Theater und ein ehemaliges Hotel, jetzt ein Kaufhaus.

Tunnel unter der Avenida Paulista
Straßen oben, Tunnel unten: Für Autofahrer unternehmen die Stadtoberen von Sao Paulo viel.
Das frühere Kaufhaus daneben stünde leer, nutzten es nicht einige Leute als Wohnung. Mitten in der Stadt stehen abgrundtief scheußliche Parkhäuser neben Glaspalästen neben einstöckigen Häusern aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts neben Baracken. Stadtplanung ist hier womöglich eine ähnlich verabscheute Tätigkeit wie anderswo das Waschen von Leichen. Jedenfalls macht man es nicht. Oder orientieren sich die Politiker an den USA, wo ja auch jeder bauen und vergammeln lassen darf, wie er will?

Immerhin, das U-Bahnnetz ist gut ausgebaut und man findet sogar im Berufsverkehr noch einen Sitzplatz. Wie in anderen zivilisierten Städten kann man für die Verkehrsmittel eine wiederaufladbare Karte benutzen. Jedenfalls gibt es Stellen, an denen man sie wieder aufladen könnte, wenn man eine hätte. Was wir nämlich nicht gefunden haben: eine Möglichkeit, das Plastikding auch zu kaufen. Die Leute am Aufladeschalter schüttelten nur milde das Haupt und verwiesen an die „Postos do SP Trafic“. Wo die denn seien? Schulterzucken. Einen solchen Stand fanden wir, aber das war Samstagnachmittag. Nein, er habe das „Bilhete Unico“ nicht, der zuständige Posto sei auch schon geschlossen.

Wenn Deppen an Schranken scheitern

Also kauft der irritierte Tourist Einzeltickets („Bilhete unitario“). In der U-Bahn bekommt er es als Papp-Kärtchen mit Magnetstreifen wie früher in Paris. Im Bus gibt es gar nix, da löst der Schaffner nur die Sperre für das Drehkreuz. Was lustig wird, wenn der depperte Ausländer dann nicht ganz durchgeht, sondern steckenbleibt und zurück will. Längerer Vortrag des Schaffners, erst verständlich durch heftiges Gestikulieren: Man möge bitte an der nächsten Haltestelle vorne aus und in der Mitte (hinter der Sperre) wieder einsteigen.

Für die Schnellbahnen braucht man wieder ein anderes Ticket, das genauso aussieht wie das von der U-Bahn und auch genauso viel kostet. Wird aber nicht an denselben Schaltern verkauft, die Frage danach gilt offenbar als völlig abwegig. Kostenloses Umsteigen gibt es nur an manchen U-Bahnhöfen, an anderen nur zu bestimmten Zeiten.

Trotz all dieser Widrig- und Merkwürdigkeiten kommt man gut vorwärts, vor allem dank der wunderbaren App Moovit. Die kennt für zig brasilianische Städte sämtliche Verkehrsmittel samt Haltestellen und Abfahrtszeiten. Ganz, ganz großartig. Obwohl die Abfahrtszeiten meist nur vage Hinweise sind – da die Busse häufig genug fahren, macht das nix.

Die Göttin spielte mit Beton

Sao Paulo leistet sich auch eine Architekturgöttin: Lina Bo Bardi hat hier das Kunstmuseum direkt an der zentralen „Avenida Paulista“ gebaut und eine ehemalige Fassfabrik in ein Kulturzentrum verwandelt. In den 60er Jahren waren das wohl mal bahnbrechende Gebäude. Heute sehen sie einfach nur wie Orgien in Beton aus, das Museum ziert zumindest noch ein roter Riegel. Die einzigartige Präsentation der Gemälde dort stammt auch von Frau Bo Bardi: Die Bilder hängen nämlich nicht an der Wand, sondern in leicht versetzten Reihen chronologisch sortiert mitten im Raum. Maler, Titel usw. stehen auf einem auf der Rückseite aufgeklebten Zettel. Statt also das Bild kurz anzugucken und dann den Text dazu zu lesen, stehen die Leute deutlich länger vor dem Gemälde und gucken dann mal auf die Rückseite.

Bilder im Museum für Moderne Kunst, Sao Paulo
Frau Bo Bardi ließ die Gemälde einfach im Raum aufhängen, was denen und den Besuchern gut tut.

Hier hängen auch etliche Gemälde des wohl berühmtesten brasilianischen Malers Candido Portinari. Er hat nicht nur viel und gut gemalt, sondern vor allem in vielen unterschiedlichen Stilen. Hat man erst ein, zwei Bilder von ihm gesehen, würde man das nächste vermutlich nicht ihm zuordnen. In Sao Paulo zeigten sie zwei sehr klassische Porträts wie aus dem 18. Jahrhundert, einen Kaffeearbeiter, der von Diego Rivera hätte sein können, und eine offenbar von Picasso inspirierte Beerdigung eines Kindes. Sehr abwechslungsreich, sehr unterhaltsam. Wen das interessiert: Online gibt es ein Archiv mit über 5000 Bildern von Portinari

Portinari-Gemälde eines toten Kindes
Portinari-Gemälde, Frauen-Porträt 2 Portinari-Gemälde, Frauen-Porträt 1
Portinari-Gemälde, Kaffee-Arbeiter
Vier Gemälde von Candido Portinari, könnten aber auch von drei unterschiedlichen Malern sein.

Betrunkener Tänzer auf der Avenida Paulista in Sao Paulo Trotz aller Hässlichkeit und Autoverliebtheit gönnt sich Sao Paulo auch ein Ereignis, das bei uns zuhause dringend fehlt. Am Sonntag wird dort die kilometerlange Avenida Paulista für den Verkehr gesperrt. Bis abends um 6 gehören die acht Spuren dann Fußgängern, Musikgruppen und Händlern. In Belo Horizonte machen sie das schon länger, und allen scheint es dort wie in Sao Paulo zu gefallen. Wir mochten es auch. Ebenso wie die zahlreichen Radwege, die hier häufig zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen verlaufen. Da rasen sie dann auch abends noch an den stehenden Autos vorbei, gerne auch unbeleuchtet.

Fußgänger auf der Avenida Paulista am Sonntagabend
Sonntags gehört die Avenida Paulista den Fußgängern.
Stau auf der Stadtautobahn von Sao Paulo am Abend
Alle anderen Straßen sind immer ganz und gar den Autos vorbehalten.

Zwischen Hungertod und Fettleibigkeit

Sollen es weder Hamburger noch Pizza oder Sushi sein, ist Essengehen in Brasilien etwas knifflig. Das lokale Angebot konzentriert sich auf gebratenes und gegrilltes

Mittagsimbiss für zwei
Mittagessen für zwei, sparsame Variante.
Fleisch mit drögen Beilagen wie Reis, Pommes oder frittierte Maniokstücke. In Sao Paulo fürchteten wir aber zum ersten Mal, Hungers zu sterben oder an einem Burger-induzierten Cholesterinschock zu verenden. Rund um das Hotel schien es nur Schnellimbisse zu geben. Ein paar Ecken weiter schmückte sich ein Laden zwar mit Kellnern und einem „Chic“ im Namen, servierte aber ebenfalls nur Fast Food. Zu deutlich überhöhten Preisen.

Weiter erschwert wird die Nahrungsaufnahme am Sonntag – da haben rund 90 Prozent aller Gastronomiebetriebe zu. Letztlich landeten wir in einem nicht ganz so

Churros mit Doce da leite
Es geht auch ganz anders: Churros com doce da leite zum Nachtisch. Glück gehabt.
verwarzten Fleischtempel, der sogar einen Salat zum Essen lieferte. Grünzeug einfach so zum Essen bekommt man sonst fast nie. Später futterten wir noch in einem alkoholfreien Burger-Laden mit origineller Einrichtung. Der Chef ist Adventist oder sowas, weshalb die Gäste auch nicht trinken dürfen.

Ob es an der Krise liegt, die die Leute zu Hause kochen lässt? Oder ob es eben einfach der lokale Geschmack ist, der Gemüse allenfalls auf Kilo- oder All-You-Can-Eat-Büffets erträgt? Vielleicht sind wir auch nur zu unbeweglich und müssten mit Taxis in andere Gegenden der Stadt fahren. Trotz der scheinbar überwiegenden Ernährung mit Fast Food und der vielen deutlich Übergewichtigen, die man hier sieht: Der Anteil Fettleibiger ist in Brasilien deutlich geringer als in Deutschland, sagt die WHO. Was sicherlich auch daran liegt, dass viele eben nicht genug zu Essen haben.

Merkwürdige Tätigkeiten sichern Arbeitsplätze

Bestellkarte eines Restaurants Nicht nur Schaffner in Bussen wirken etwas altmodisch, auch bei anderen Jobs in Brasilien könnte man sich fragen, ob sie wirklich nötig sind. Zum Beispiel die Ausgangskontrolle in etlichen Geschäften und Restaurants. Beim Betreten bekommt jeder Gast eine Karte mit aufgedruckter Nummer ausgehändigt, die tunlichst aufzubewahren ist. Auf die Nummer wird jede Bestellung und jeder Einkauf gebongt. Zum Bezahlen wandert man mit dem Kärtchen zu einer Kasse neben dem Ausgang (!).

Ist alles zur Zufriedenheit geregelt, bekommt der Kunde einen weiteren Zettel, den ein Mensch vor dem Etablissement dann wieder einsammelt. Eine andere Beschäftigung hat er nicht. Außer natürlich mit dem Handy zu spielen, um nicht vor Langeweile zu sterben.Im Frühstücksraum des Hotels ist eine Person ausschließlich dafür zuständig, Eintreffende nach ihrer Zimmernummer zu fragen. Trifft niemand ein, dreht sie Däumchen. In Drogerien, und davon gibt es in jedem Häuserblock mindestens fünf, lungert eine Armee von VerkäuferInnen herum, die meistens nichts zu tun hat.

Auf die Spitze treiben es einige Banken: Dort sitzt vor der Eingangsschleuse jemand, der die Wartenummern für die Schalter vergibt. Zudem passt ein Wachmann auf, dass Besucher ihr Handy außen an der Schleuse vorbeischieben. Drinnen steht ein Bewaffneter auf einem kleinen Podest, und in der ersten Etage wieder einer. Oder die Leute, die bei Rotphasen der Ampel ein Werbetransparent über die Straße spannen und es bei Grün wieder einrollen. Derlei „Mac“-Jobs gibt es hier an jeder Ecke, eigentlich wie in Kuba. Ob es nun besser ist, viele unterbeschäftigte Leute schlecht oder wenige tätige besser zu bezahlen? Auf Effizienz trainierte Deutsche wundern sich jedenfalls.

Werbetransparent bei der Rotphase einer Ampel
Kaum ist die Ampel rot, springen die beiden Leute auf die Straße und entrollen ihre Werbung für eine Krankenversicherung.

Ähnliche Beiträge