Tienanmen platz

Des Kaisers Armee, Palast und Grab: Xian und Beijing

21.4.2017

Der chinesische Kaiser ist schon sieben Jahre länger außer Amt als der deutsche. Trotzdem spielt er überall eine viel größere Rolle, und für ein sozialistisches (?) Land nimmt China auffallend viel Bezug auf den Feudalstaat. Was vielleicht auch daran liegen könnte, dass dessen Erbschaft so umfangreich und beeindruckend ist. Erste Begegnung für uns damit war die Terracotta-Armee bei Xian, gut 1000 Kilometer südöstlich von Beijing. Kopien dieser Soldaten sind vor Jahren schon durch die Welt gereist, und jeder hat bestimmt Bilder davon gesehen.

Weniger präsent ist vielleicht, dass die Originale über 2000 Jahre alt, übergroß und zerstört sind. Was es heute zu sehen gibt, sind die Teile der Armee, die seit Anfang der 1970er zusammengepuzzelt wurden; einige hundert Soldaten, Offiziere, Bogenschützen und Pferde. Alle Menschen sind Unikate, man findet keine zwei gleichen Gesichter. Da die Armee den toten Kaiser im Jenseits beschützen sollte, hat man sie in großen unterirdischen Gebäuden aufgestellt. Deren Holzdächer stürzten im Laufe der Zeit ein, daher die Beschädigungen. Hinter den bereits fertiggestellten Soldaten in der größten Halle arbeiten die Archäologen daran, weitere Figuren zusammenzusetzen. Das alles ist schon wegen der Größe und der detaillierten Darstellung beeindruckend. Farblich geben die Krieger nicht soviel her, von der ursprünglichen Bemalung ist kaum etwas erhalten. Auch die metallenen Speere, Bögen und so weiter fehlen – über die Jahrhunderte geklaut und eingeschmolzen.

In der großen Halle der Terrakotta-Armee. Xian
In der großen Halle der Terracotta-Armee
Werkstatt zum Restaurieren der Terrakotta-Armee. Xian Detail von Terrakotta-Soldaten. Xian
Die Soldaten der Terracotta-Armee werden mühevoll aus Einzelteilen zusammengepuzzelt.

Für Größe können sich die chinesischen Regierenden bis heute begeistern. Klein, auch nur kleiner, zu bauen, scheint unmöglich. Neue Straßen sind überbreit; Häuser nicht unter 10 Etagen hoch und mit riesigen Freiflächen drum herum; Bahnhöfe füllen vier Fußballfelder (obwohl nur alle 20 Minuten ein Zug fährt). Wer schon La Defense in Paris unmenschlich gigantisch findet, dem fehlen wohl die Worte für das, was in China schon steht und noch gebaut wird. Wohlgemerkt: Das sind keineswegs nur hässliche graue Betonklötze oder stalinistische Torten. Mit Glas, Stahl und Beton stellen sie hier viele reizvolle Gebäude hin, und dank der Freiflächen fühlt man sich auch meist nicht so insektenhaft wie in Manhattan.

Vom Bahnhof Xian fahren Schnellzüge nach Beijing
Der Bahnhof von Xian, 30 Kilometer vor der Stadt. Hier fahren weniger Züge als in Kassel-Wilhelmshöhe.

Besonders bombastisch geht es in Beijing zu, der nördlichen Hauptstadt“. Hier liegt direkt neben dem Platz des Himmlischen Friedens, der 100.000 Menschen fasst, die Verbotene Stadt mit ihren 9999,5 Räumen. Das letzte halbe Zimmer durfte der Kaiser nicht bauen, weil so ein großer Palast nur seinem Vater zustand, dem Drachen. Keine Frage, das alles ist groß und eine technische Meisterleistung, weil ohne Nägel zusammengefügt. Aber hübsch – da dürften sich die Geister scheiden. Mir ist das alles zu eintönig: Hof nach Hof, jeweils in der Mitte des größte Gebäude mit Walmdach, rechts und links davon zwei kleinere Ausgaben davon. Alles schön dekoriert, mit immer denselben Motiven. Sogar die Details sind gleich, etwa die Figuren der Dachreiter und die hohe Schwelle, die böse Geister draußen halten soll (böse Geister haben bekanntlich keine Knie, daher können sie nicht über die Schwelle steigen). Das alles sieht man dann in etwas kleiner (und viel, viel weniger besucht) am Rande Beijings bei den Gräbern der Ming-Kaiser wieder.

Beijings Verbotene Stadt innen
Die Verbotene Stadt scheint fast leer zu sein…
Menschenmassen auf der großen Mauer bei Beijing
… während man von der großen Mauer vor allem die Besucher sieht.

Seit hunderten von Jahren immer dasselbe getuscht

Böse Zungen behaupten, die chinesische Kunst habe sich von 3000 vor bis 1500 nach unserer Zeitrechnung immer weiter entwickelt und sei der in vielen anderen Gegenden voraus gewesen. Seitdem aber sei nichts Neues mehr gekommen, nur noch die Wiederholung des Bekannten. Schaut man sich in Museen und Galerien (oder auch Kaiserpalästen) um, scheint manches für diese These zu sprechen. Die Terracotta-Armee und noch frühere Skulpturen hatten zu ihrer Zeit wohl nirgendwo künstlerische Konkurrenz, dasselbe gilt für die Malerei. Aber warum malen viele heute noch dieselben Berge, Blumen, Vögel mit derselben Technik? Warum immer noch diese Begeisterung für das schöne Pinseln der nicht besonders praktischen Schrift? Warum sehen die “besten Stücke” des China Art Museum aus dem 20. Jahrhundert so aus, als seien sie 500 Jahre früher entstanden? Und vor allem: Warum ständig der stolze Blick zurück in die Feudalzeit?

Ein chinesisches Aquarell aus dem 19. Jahrhundert Ein chinesisches Aquarell aus dem 16. Jahrhundert
Zwischen diesen beiden Bildern liegen völlig folgenlose 300 Jahre.

Im Museum zur Großen Mauer etwa geht es nur um die überragende Technik und die großartige Leistung – kein Wort von Zwangsarbeit, Hunger und Unterdrückung. Auffällig auch – und mit der Zeit etwas nervig – die dauernde Bewertung des Gezeigten als „schön“;, „wunderschön“, „beeindruckend“, „einzigartig“ und so weiter. Sowohl unsere Führer betrieben das („Wir fahren jetzt zum wunderschönen Westsee!“) als auch die englischen Erläuterungen in Ausstellungen. Ebenso häufig wie die vorsorgliche Bewertung ist der ständige Hinweis auf Größe: Im Stadion haben 90.000 Leute Platz, im Theater 4000, Beijing ist so groß wie Schleswig-Holstein, der Zug fährt 300 Kilometer pro Stunde. Als könne jemand hierzulande übersehen, dass alles riesig, modern und meistens voll ist.

Olympiastadion (Vogelnest), Beijing
Auch sehr groß: das Olympiastadion von Beijing

Viele große Schritte in den letzten 70 Jahren

Andererseits: Welches andere Land hätte in 70 Jahren ähnliche Fortschritte gemacht? Es gibt keine Hungersnöte mehr, keine Leibeigenschaft, keine Eunuchen, keine Frauen mit künstlich verkrüppelten Füßen. Die Städte verfügen über moderne Nahverkehrssysteme (anders als etwa Bangkok oder Kuala Lumpur) und die Wohnungen über Bäder. Hier in Beijing sieht man noch viele der alten Einfamilienhäuser ohne eigene Toilette, deshalb gibt es so viele öffentliche. Neun Jahre Schule sind Pflicht, und die Wehrpflicht ist abgeschafft. 85 Prozent der Bevölkerung gehören zur „Mittelschicht“, leben nach der hiesigen Definition also nicht von Sozialleistungen. Das schließt die tageweise bezahlten Wanderarbeiter ohne Krankenversicherung ein. Auf all das dürften die Leute stolz sein, und das äußert sich eben manchmal für uns etwas aufdringlich. Eine staatliche Rentenversicherung existiert nicht – Konfuzius zufolge müssen die Kinder seit über 2000 Jahren für ihre Eltern sorgen. Die Umweltprobleme sind unübersehbar, aber nirgendwo in Europa fahren so viele E-Busse, -Roller, -Dreiräder und -Fahrräder wie in China. Dass Strom aus Kohle bäh ist, steht hier außer Frage, und man bastelt an Alternativen.

Alte Gasse (Hutong) in
Beijing
Klassischer Altbau in Beijing. Die Häuser in diesen Hutongs haben keine eigenen Badezimmer, dafür gibt es in jedem Viertel Gemeinschaftstoiletten.

Noch geht es „nicht 100 Prozent demokratisch“ zu (unser Reiseleiter Tao). Aber zumindest über die Fehler der Vergangenheit wird offen gesprochen – Kulturrevolution, Großer Sprung nach vorn, Viererbande, das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens. Der jetzige Ministerpräsident allerdings ist der beste überhaupt… Mal schauen, wie lange.

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