Historische strassenbahn in der istiklal caddesi

Nackte Ananas in Istanbul

18.12.2015

Istanbul ist kein Urlaub für mich: Vier Wochen lang soll ich mich hier auf das Niveau B1 der Landessprache hocharbeiten. Da ist für Besichtigungen und die üblichen Urlaubsbeschäftigungen kaum Zeit. Morgens um 9 fängt die Schule an, vier Stunden später geht’s zurück in das Apartment. Das liegt 20 Gehminuten entfernt, nördlich von Taksim-Platz. Mit dem Bus geht es schneller, aber das funktioniert nur für den Rückweg, denn hin fährt der Bus eine andere Strecke.

Allerdings kommt es auch vor, dass man zu Fuß wesentlich schneller vorankommt als mit dem otobüs. Zum Beispiel gegen 18 Uhr am Freitag. Da wollte ich rüber nach Asien, in die Oper. Die vorgeblich schnellste Option (Internet) war mit 25 Minuten der Bus nach Kabataş und von dort das Schiff. Solche Informationen sind ähnlich zuverlässig wie in anderen Teilen der Welt: Inklusive Wartezeit brauchte ich 40 Minuten für die gut zwei Kilometer bis zum Anleger, insgesamt eine Stunde.

Neubau mit Portikus in Istanbul Neubau mit klassizistischen Balkonen in der Cumhurriyet Caddesi, Istanbul
Klassizistische Formen begeistern in der Türkei nicht nur Präsident Erdoğan.

Tickets für die Oper bekommt man im Netz. Die Website dafür ist türkisch- und englischsprachig. Immer wenn es wichtig wird, vergisst sie aber ihr Englisch. So stand ich mit einem halbfertigen Ausdruck (der QR-Code fehlte, weil nicht druckbar) sicherheitshalber lange vor dem Beginn des Stücks im Foyer. Ganz unnötig, denn in einer asiatischen Oper steht, wie überall in Asien, der Service im Vordergrund. Also braucht niemand einen Ausdruck oder einen QR-Code. Es reicht, wenn der Besucher seinen Namen an dem Tisch nennt, auf dem alle Internet-Tickets bereitliegen. Wer nicht so auf Hochkultur steht, kann sich zum Beispiel im Freien mit Istanbuls Straßenkunstvertraut machen.

Für eine Stadt mit 12 Millionen Einwohnern ist das Opernhaus erstaunlich mickrig. Leere Plätze gab es trotzdem. Vielleicht nur deshalb, weil die Zuschauer ihren Sitz nicht finden konnten? Die Nummern sind nämlich auf der Rückseite der Rückenlehne angebracht. Das ist gut für die Wirbelsäule und die Kommunikation, wenn man den Suchenden in der Vorderreihe ihre Platznummer vorliest. Zahlen muss ich ja auch üben, das war also eine Win-Win-Situation.

Unter Wasser Vorkehrungen gegen alle Missgeschicke

Zum Stück gibt’s nicht viel zu sagen, „Der Liebestrank“ von Donizetti. Eine dieser Liebesgeschichten, gefällige Musik. Wer ein bisschen Italienisch verstand, war klar im Vorteil, denn die türkischen Obertitel wurden von 0,5-Watt-Birnen projiziert. Das fand auch der Herr neben mir schlecht, der allerdings ohnehin pausenlos mit seiner Begleiterin quatschte. Nein, das ist nicht landesüblich. Eine großartige Entschädigung für das eher mittelmäßige Stück war der Tenor: der ideale jugendliche Liebhaber, dunkel, behaart, knackig. Wenn es ernst wurde, wedelte er allerdings immer wenig männlich mit dem Händen. Als er gegen Ende des Stückes dann von einigen Mitspielerinnen fast vollständig entkleidet wurde, ging ein vernehmliches Raunen durch das Publikum. Die Hose blieb schließlich doch oben…

Leuchtende Regenschirme auf dem Weg zur asiatischen Anlegestelle in Istanbul
Ganz ohne Weihnachtsbeleuchtung kommt Istanbul nicht aus. Die Motive sind aber eher ungewöhnlich.

Von Asien nach Europa zurück gibt es nachts kein Schiff mehr. Blieb also für die Rückfahrt nur die U-Bahn, die ja dank Erdoğan nun unter dem Bosporus verläuft (und da Marmaray heißt). Diese relativ neue Linie fährt rasend schnell und ist natürlich supermodern. Überall im Zug hängen Monitore, die keine Werbung oder Nachrichten abspielen, sondern Informationen über Marmaray selbst: dass die Röhren für Erdbeben bis Stärke 9 ausgelegt sind, alle 150m Fluchttüren bereitstehen (aber wohin soll ich zig Meter unter dem Wasser flüchten?). Brennte es, pusteten große Turbinen den Rauch weg; fiele der Strom aus, sprängen Notstromaggregate an. So genau möchte man vielleicht gar nicht wissen, was alles schiefgehen könnte in so einem kilometerlangen Tunnel unter dem Meer. Und wenn alle diese Maßnahmen ähnlich gründlich sind wie die Sicherheitskontrollen an U-Bahnhöfen und Shopping-Centern, sollte besser überhaupt nichts schiefgehen.

Weihnachstbaum in einem Shopping-Center in Istanbul
Ohne Weihnachtsbaum geht es auch im Shopping-Center in Istanbul nicht.

Einkaufscenter stehen in Istanbul an jeder Ecke, an manchen sogar zwei. Wer den ganzen Kram wohl kaufen soll? Ein Gutes hat die Überversorgung zumindest für mich, denn anderthalb Metro-Stationen vom Apartment entfernt befindet sich ein riesiger Migros in einem dieser Einkaufstempel. Da gibt es fast alles, auch Alkohol. Den führen sogar in Istanbul viele türkische Supermärkte nicht, und auch bei echtem Saft sieht’s da häufig schlecht aus. Findet man alles bei Migros, und außerdem frisch geschälte Ananas, wofür irgendjemand extra eine Maschine konstruiert hat. Ananas rein, Hebel runter, fertig. Warum haben deutsche Supermärkte das nicht?

Çiğ Köfte nur am Wochenende

Am Wochenende verkauft Migros auch Çiğ Köfte, das im Wesentlichen aus rohem Hack, Bulgur und Gewürzen besteht. Auch eine andere Art von Buletten bieten sie am Wochenende an, die sich in einer dünnen Teighülle verstecken. Beides sehr lecker. Die riesige Käsetheke enttäuscht allerdings bei näherem Hinsehen: Sie enthält Schafskäse, Käse aus Schafsmilch und beyaz peynir aus Milch vom Schaf. Wer mehr Abwechslung haben möchte, kann Gouda mit Kümmel oder mit Pfeffer kaufen, eingeschweißt. Ach ja, auch Kaşar ist eine Art Käse, sieht hellgelb und analog aus. Hab’ ich nur in der Variante kaşarli köfte (also gebratener Fleischklops mit Käse) kennengelernt, wo er gar keinen Eindruck hinterließ.

Geschälte und fast verzehrfertige Ananas aus einem Istanbuler Supermarkt
Innerhalb von 30 Sekunden macht die Migros-Maschine eine Ananas nackig.

Besseres Essen als Migros-Convenience gäbe es sicherlich im Restaurant. Aber alleine? So richtig Spaß macht das nicht. Als Kompromiss gehe ich jetzt mittags manchmal in ein Mini-Lokal 20m vom Apartment. Es hat drei Resopal-Tischchen hinter einem zugigen Fenster, für die Raucher steht ein Tisch auf dem 70cm breiten Bürgersteig vor dem Laden. Mutti kocht, Vati nimmt Bestellungen auf, trägt Teller hin und her, parliert mit den Gästen und scheucht den Sohn durch die Gegend. Der ist für den Call-a-Şiş-Service zuständig, wischt Boden und Tische und führt Vatis Anordnungen aus. In dem Laden gibt es Menü mit Suppe und Hauptgericht für schlappe 3,50 €, und alle freuen sich, wenn ich komme. Inzwischen denkt Vati auch an meinen Ayran, an den ich ihn früher immer erinnern musste. Allerdings: Der Sohn ist gar kein Sohn, stellte sich heraus. Sondern ein syrischer Flüchtling, der gerne sein Englisch aufgebessert hätte.