Kathedrale korçë von oben

Korçës Kinder werden in den USA groß

16.9.2023

Von Tirana führt anfangs eine kurze Autobahn, dann die übliche zweispurige Landstraße Richtung Südosten, zum Ohrid-See. Der ist groß (etwas größer als der halbe Bodensee), alt (rund 3 Millionen Jahre), tief (über 200 Meter) sowie historisch und spirituell schwer beladen und steht inzwischen zum Glück unter Naturschutz. In ihrem Buch „Am See“ schreibt Kapka Kabanova über das Gewässer und ihre Jugend in der Region. Darin geht es auch um die alte römische Handelsstraße Via Egnatia, die in dieser Gegend verlief.

Ohrid-See bei Lin
Groß, klar, und sehr symbolbeladen für Anrainerstaaten sowie weiter weg liegende: der Ohrid-See

Die Stadt Ohrid in Nord-Mazedonien war vor tausend Jahren mal kurz Hauptstadt Bulgariens. Heute gehört der See zu Nord-Mazedonien und Albanien. Einerseits hält die orthodoxe Kirche Bulgariens ihn immer noch für ur-bulgarisch, weil Schüler des Heiligen Cyril dort tätig waren. Andererseits begeistern sich auch die orthodoxen Nord-Mazedonier für die Heiligen und pilgern regelmäßig zum See. Deren Sprache hält Bulgarien wiederum für einen Dialekt der eigenen. Ach, der Balkan ist schon unterhaltsam.

Zu diesem Unterhaltungsprogramm gehört die albanische Begeisterung für Mutter Theresa. Geboren wurde die Dame als Anjezë Gonxhe Bojaxhiu in Skopje, was weder damals noch heute zu Albanien gehörte. Mit 18 Jahren zog sie nach Irland und später nach Indien. Sie habe sich aber, wie man hier immer wieder lesen kann, immer als Albanerin gefühlt. Als Außenstehender könnte man sich fragen: warum? Wie fühlt man sich als Angehörige einer Nation, auf deren Territorium man nie gelebt hat? Vererben Gene nicht nur die Haarfarbe, sondern auch die Nationalität? Aber was ist dann mit Leuten, deren Eltern verschiedene Staatsangehörigkeiten haben? Man weiß es alles nicht, aber Nationalität spielt eine große Rolle, und Albanien freut sich über seine Heilige.

Reste eines aufgegessenen Koran-Fischs
So ein gegrillter Koran-Fisch schmeckt gut. Den hier verspeisten wir passenderweise direkt am Ufer des Ohrid-Sees.

Im Ohrid-See schwimmen keine Heiligen mehr, dafür eine Fischart, die andernorts „Ohrid-See-Forelle“ heißt, in Albanien jedoch „Koran-Fisch“. Der Verzehr löst allerdings keine wütenden Proteste aus. Gefischt wird das Tier heute nicht mehr, was man auf den Teller bekommt, stammt aus Zucht (heißt es). Gegrillt sehr lecker, leicht rosa Fleisch, hat nichts Erkennbares mit Forelle zu tun.

Den Koran-Fisch bekamen wir am Ufer des Sees im kleinen Ort Lin. Er ist die letzte nennenswerte albanische Siedlung vor der nord-mazedonischen Grenze und ein „Geheimtipp“ in den Reiseführern. Erwartungsgemäß schlendern also Touristengrüppchen durch die Gassen und hoffen auf etwas Besonderes. In den Gassen wiederum haben Albanerinnen ihr Angebot an Obst, Gemüse und Eingelegtem aufgebaut und hoffen auf zahlungswillige Touristen.

Gasse in Lin am Ohrid-See
Im kleinen Ort Lin am Ohrid-See hoffen die Einwohnerinnen auf Touristen, denen sie Obst und (eingelegtes) Gemüse verkaufen können. Die alten Steinhäuser setzten auf eingeschobene Holzbalken als Erdbebenschutz.

Nicht nur am Ohrid-See speist man Fisch: In Shkodër verköstigte uns das „Fish-Art“ großartig, anderswo briet man leckere Shrimps. Daneben verarbeiten viele Lokale viel Fleisch. Schließlich liegt Albanien zwischen Griechenland und Ex-Jugoslawien und war jahrhundertelang osmanisches Territorium, da gehört Gegrilltes zur Pflicht. Auch in den Namen vieler Gerichte scheint das Türkische durch: Es gibt Suxhuk (Suçuk), Xaxiq (Çaçik oder Tzatziki) und Qofte (Köfte). Und weil nicht nur Moslems hier leben, dürfen Kuh, Lamm und Schwein auf dem Teller liegen. Allerdings meist in solchen Mengen, dass man den Gedanken an eine Vorspeise mit Bedauern vergessen sollte.

Trotzdem bekommt man hier leicht etwas anderes als Fleisch mit Fleisch an Fleisch: Die Chefs kochen gerne mit Gemüse. Das Tiraner Restaurant Mullixhiu („Müller“) hat es sogar bis in deutsche Medien geschafft mit der Behauptung, modernisierte albanische Küche zu produzieren. Wir fanden allerdings Besseres sowohl in Tirana (Gzona) als auch in Shkodër (Villa Bekteshi). Ein Degustationsmenü mit sechs, sieben Gängen kostet hier maximal 40 Euro, und es besteht keine Gefahr, zu platzen.

Turm „Red“ am Ende der Fußgängerzone in Korçë
Das Ende der Fußgängerzone von Korçë markiert ein sinnloser Turm.
Leckeren Wein produzieren sie hier auch. Wir tranken rund eine Woche lang die Flaschen der Winzerei „Kallmet“, bis uns jemand behutsam erklärte, dass die Rebsorte so heißt. Wieder was gelernt, und bei dem Tropfen werden wir hier, wenn möglich, bleiben.

40 Kilometer südlich vom Ohrid-See liegt Korçë. Unter den 84 wichtigsten albanischen Sehenswürdigkeiten kommt es auf den vierundachtzigsten Platz, jedenfalls bei der lokalen Reiseführerin Manon, die vor allem Strände, Berge und (vormals) einsame Bergdörfer toll findet. Das Städtchen ist überschaubar groß, in einer guten Stunde dürfte man von einem Ende zum anderen gelaufen sein.

Dabei kommt man unter anderem durch die Fußgängerzone mit zwei Museen, zig Restaurants und Cafés sowie dem Grundriss der während der atheistischen Phase abgerissenen katholischen Kirche St. Georg, die am Theater endet. Dort lief gerade etwas von Kishon auf Albanisch, sodass wir keinen Grund für einen Besuch hatten. Von außen sieht es aber hübsch aus.

Australische Architekten prägen das Bild der Stadt

Gegenüber vom Theater hat die Stadt ein Gebäude namens „Red“ errichtet, das aus der Ferne wie der Sprungturm eines Schwimmbads aussieht. Hat aber mangels Wasser nicht diese Funktion, sondern gar keine. Ein Aufzug führe wohl auf die Spitze, aber dessen Tür ist abgeschlossen. Ebenso die des Treppenhauses. So markiert „Red“ nur das Ende der Fußgängerzone. Turm, Theater, Masterplan des Zentrums: Alles stammt vom australischen Architektenteam Bowles & Wilson.

Theatergebäude in Korçë
Das Theater in Korçë spielt offenbar schwarze Tragödien und heitere weiße Stücke.

An kulturellen Attraktionen hat Korçë mehr zu bieten als die albanische Hauptstadt. Direkt hinter der nach einem Erdbeben wieder errichteten orthodoxen Kathedrale befindet sich das ehemalige Wohnhaus von Vangjush Mio, der vor allem durch seine Malerei in Albanien bekannt ist. Wir hatten Glück und bekamen eine kurze Führung von einem Nachfahren. Die Gemälde waren für jemanden, der von 1891 bis 1957 gelebt hatte, etwas altbacken. Macht aber nix, immerhin überhaupt mal Kunst zum Angucken. Sogar eine Art Giftzimmer gab es, das mit gemalten Nackten jeden Geschlechts behängt war.

Studio von Vangjush Mio in Korçë
Das Studio von Vangjush Mio in seinem ehemaligen Wohnhaus. Oben in der Mitte ein Gemälde des Studios – die Möbel und die Gewehre über dem Durchgang existieren noch.

Bekannter als dieser Maler dürfte Gjon Mili (gewesen) sein. Er stammte ebenfalls aus Korçë, verließ die Stadt aber als junger Mensch in Richtung USA und kehrt nie zurück. Trotzdem steht hier ein Museum, das seine Fotos zeigt. Mili hatte am MIT studiert, später bei Westinghouse gearbeitet und sich dabei mit Stroboskoplicht beschäftigt. Das setzte er als Erster in der Fotografie ein, wobei viele Studien von Bewegungsabläufen entstanden.

Er arbeitete jahrzehntelang bei LIFE, für das er sowohl die üblichen Prominentenbilder machte als auch innovative „Lichtgemälde“. So zeichnete Picasso für ihn mit Lampen Stiere und Ähnliches in die Luft und ließ sich dabei fotografieren. LIFE zeigt einige seiner Bilder online.

Japanische Gemälde nur gegen Demokratisierung

Etwas weiter außerhalb des Zentrums steht das Museum für orientalische Kunst. Tatsächlich – mitten in Albanien. Ein schickes, modernes Gebäude, das ebenfalls auf einen Exilanten zurückgeht. George Dimitri Boria wanderte mit 17 Jahren in die USA aus und kehrte nie wieder nach Albanien zurück. In Hollywood beschäftigte er sich mit Zeichentrickfilmen und Scherenschnitten, und ab 1942 war er der offizielle Fotograf der US-Armee. In dieser Position kam er nach Japan, wo er zehn Jahre lang als Fotograf des Kaisers arbeitete.

Museum für mittelalterliche Kunst Korçë
Im Museum für mittelalterliche Kunst hängen vor allem Ikonen, von denen viele aus der Region stammen.

In dieser Zeit sammelte er Kunst aus Japan und anderen asiatischen Ländern. In seinem Testament vermachte er sie seiner Heimatstadt unter der Voraussetzung, dass Albanien eine Demokratie ist. So kamen die Sammlungsstücke Anfang der 2000er-Jahre nach Korçë, und 2003 eröffnete das Museum. Einerseits zeigen sie schöne Stücke, darunter ungewöhnliche, wie thailändische Stickgemälde.

Andererseits brächte eine etwas liebevollere Präsentation den Besuchenden mehr Nutzen und dem Museum vielleicht mehr Zulauf. In Mini-Buchstaben beschriftete Schilder irgendwo in einer Vitrine, sodass man auf den Knien rutschend den Text entschlüsseln muss, das bringt hier genauso wenig wie auf der documenta.

Wand voller Ikonen im Museum für mittelalterliche Kunst, Korçë
Im Eingangsraum zeigt das Museum für Mittelalterliche Kunst, wie es aussähe, präsentierte es seine komplette Sammlung. Zum Glück hängen die Ikonen in den anderen Räumen viel lockerer.

Ikone des heiligen Christoph mit Tierkopf Kurz dahinter Richtung Vororte kommt das Museum für mittelalterliche Gemälde, was eigentlich „Museum für Ikonen“ heißen müsste. Entworfen haben es ebenfalls Bowles & Wilson, was ihnen außen wie innen gut gelang. Und hier lässt sich die Flut goldgrundierter religiöser Bilder wesentlich leichter zu ertragen als in einer orthodoxen Kirche.

Manche Darstellungen sind nachgerade lustig, wie der nebenstehende heilige Christoph. Leider hilft der englischsprachige Audio-Guide beim Verstehen nicht weiter, denn er beschreibt nur das Gemalte, ohne Zusammenhänge herzustellen. So erklärt er auch nicht, warum neben Johannes dem Täufer auf dessen Ikonen immer auch sein abgeschlagener Kopf zu sehen ist. Manchmal hält er ihn sogar in der Hand, was selbst Strenggläubige einigermaßen verwirren dürfte.

Als heimlicher Höhepunkt des Museums entpuppte sich der an die Kasse abgeordnete Restaurator. Er stellte nämlich den persönlichen Kontakt zu einem lebendigen Maler in Korçë her, der uns „in vier Minuten“ per Auto in sein Atelier bringen wollte. „Vier“ bedeutet hier etwas anderes, und der nette Restaurator griff noch einmal zum Telefon, um dem Künstler die Besonderheiten deutscher und schweizerischer Zeitangaben zu erklären. Dann klappte aber alles, und wir bekamen eine kleine, feine Auswahl zeitgenössischer albanischer Gemälde zu sehen. Was uns bisher nicht gelungen war.

Das Atelier liegt am Rande des sogenannten Alten Bazars. So nennen sie hier die großangelegte Touristenfalle aus Fast-Food- und Souvenir-Läden um einen Platz herum. Die Häuser sind hübsch, renoviert und alt, die Geschäfte so wie überall auf der Welt, und das Essen in einigen der Schuppen sehr schlecht. An einem Ende stolperten wir glücklicherweise über einen Steinmetz, der uns seine Werke zeigte: vom fünfzackigen Stern über ein Hanf-Blatt bis zur (abgerissenen) Kirche des Heiligen Georg war einiges dabei. Er freute sich über den Besuch und wir uns über eine kleine interessante Ecke in all dem Mopf.

Bibliotheksgebäude in Korçë
Die Bibliothek in Korçë, direkt neben der orthodoxen Kathedrale.

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